Montag, 28. September 2009

"Ich bin glücklich über Ihr Urteil" - Revolutionärer Katechismus


Der Sowjetmythos brauchte die Hingabe des physischen Lebens als eine Art «Erlösungsprophezeiung» für die anderen. Dabei knüpften der sowjetische Staat und nicht zuletzt Stalin persönlich an Traditionslinien an, deren Ursprünge im 19. Jahrhundert liegen. Damals etablierten sich zwei wichtige Zweige der russischen revolutionären Bewegung – die «Narodnaja wolja» (Volksfreiheit) und die Sozialrevolutionäre. Der «normale» Terror und das Selbstmordattentat waren fester Bestandteil der Aktivitäten dieser Gruppen. Allein 1906 verübten die «Kampfgruppen» beider Bewegungen fast 5000 Attentate; viele davon waren Suizidangriffe. Zu den prominenten Opfern der «Kampfgruppen» gehörten Zar Alexander II. (1881), der Justizminister von Plewe (1904) und der Grossfürst Sergej (1905).
Heute versuchen viele WissenschaftlerInnen, einer Psychologie des Terrors auf die Spur zu kommen. Terror ergreift von der Psyche der TäterInnen Besitz. «Eine Analyse der Äusserungen der Terroristen selbst demonstriert, dass der Terror nicht einfach eine Arbeit, ein Beruf ist», schreibt Dmitrij Olschanskij, der Leiter des russischen Zentrums für strategische Analysen und Prognosen in Moskau, in seinem Buch «Psychologie des Terrorismus»: «Bei seiner ganzen Gefährlichkeit und Risikobereitschaft erfordert der Terror die Unterwerfung der ganzen Persönlichkeit. Der Terror kann nicht einfach eine Art Hobby sein.» Der Sozialrevolutionär Boris Sawinkow (1879–1925) gilt heute unter russischen ExpertInnen als Klassiker des Terrors. Seine autobiografischen «Aufzeichnungen eines Terroristen», verfasst 1908 und 1909, gelten bis heute als Pflichtlektüre zum Fachgebiet «Psychologie des Terrors». Sawinkow schreibt: «Ein Mitglied der Kampforganisation sollte über eine grenzenlose Hingabe für die Sache der Organisation verfügen bis hin zur Bereitschaft, sein Leben in jeder gegebenen Minute zu opfern.»
Der Haupttäter des Anschlags auf den Grossfürsten Sergej und Held von Albert CamusÕ Stück «Die Gerechten», Iwan Kaljajew, entsprach diesen Anforderungen gänzlich: «Kaljajew liebte die Revolution so tief und so innig, wie sie nur diejenigen lieben, die ihr Leben für sie opfern. Zum Terror kam er auf seinem besonderen, originären Weg und sah in ihm nicht nur die beste Form des politischen Kampfes, sondern auch ein moralisches, vielleicht sogar ein religiöses Opfer.» Nach seiner Festnahme am 4. Februar 1905 schien es für Kaljajew eine unerträgliche Schmach zu sein, überlebt zu haben. «Wider all meine Bemühungen bin ich am 4. Februar am Leben geblieben», schrieb Kaljajew in einem Kassiber an seine Mitstreiter. Und in einem weiteren Brief bekundet er: «Seit ich hinter Gittern gelandet bin, habe ich nicht mal eine Minute lang den Wunsch gehabt, irgendwie mit dem Leben davonzukommen. Die Revolution bescherte mir ein Glück, das höher steht als das Leben.»
Sergej Netschajew (1847-1882), neben Michail Bakunin ein Gründer des russischen «revolutionären Machiavellismus», veröffentlichte 1869 in Genf seinen «Revolutionären Katechismus», der für mehrere Generationen russischer Revolutionäre zur Bibel wurde. Er formuliert das Programm eines breit angelegten Terrors und schreibt: «Der Revolutionär ist ein Mensch, der sich seiner Aufgabe verschrieben hat, dem Staat und den gebildeten Ständen gegenüber erbarmungslos zu sein. Zwischen ihnen besteht ein schonungsloser, unversöhnlicher Krieg bis auf den Tod.» Die Parallelen zwischen dem «Katechismus» und der Psychologie der Mitglieder der Kampforganisation der Sozialrevolutionäre sind augenfällig. So erklärte Kaljajew in seiner Rede vor Gericht am 5. April 1905: «Ich bin kein Angeklagter, ich bin euer Gefangener. Wir sind zwei Kriegsparteien. Ihr seid Repräsentanten der Imperatorregierung, die gedungenen Diener des Kapitals und der Gewalt. Ich bin ein Volksrächer, Sozialist und Revolutionär.» Vor seiner Hinrichtung erklärte Kaljajew: «Ich bin glücklich über Ihr Urteil, ich hoffe, dass Sie sich entschliessen, es genau so offen und in aller Öffentlichkeit zu vollstrecken, wie ich das Urteil der Partei der Sozialrevolutionäre vollstreckt habe.»

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