Samstag, 3. April 2010

Destruktionssymbolik


Die neue Denkweise in der Psychopathologie führt Seelenstörungen
auf inhaltlich bestimmte Grrundbedingungen zurück; sie
ruht auf der Kenntnis der typischen Ausgangslage für schädigende
Konstellationen der psychischen Inhalte, des Aufeinander-
treffens von unvereinbaren Impulsen. Der Ursprung
dieses Wissens war die Entdeckung C. Werniekes von der Be-
dingtheit affektiver Überwertigkeiten durch das Bestehen von un -
lösbaren inneren Konflikten.

Die ungeheure, von Freud entdeckte Bedeutung des Sexu-
ell e n für das unbewußte Seelenleben ist auf die Tatsache zurück-
zuführen, daß hier der Widerstreit von unzerstörbarem
eigenen Wollen und übermächtigen Suggestionen
— der Summe der bestehenden Moralprinzipien und Institutionen
auf dem Gebiete der Sexualität — mit absoluter Unausbleiblichkeit
den unlösbaren inneren Konflikt erzeugt. Der sexuelle Grund-
eharakter der Neurose liegt n i c h t im eigentlichen — am wenigsten
im angeborenen — Wesen der Sexualität, sondern in der Tatsache,
daß das Gebiet der Sexualität von äußeren Faktoren zum
eigentlichen Gebiet des hoffnungslosen inneren Kampfes gemacht
wird.

Freud hat die Ansicht ausgesprochen, die ursprüngliche sexu-
elle Anlage des Menschen und die erste Sexualität des Kindes sei
„allsexuell". Sie enthalte die Summe aller überhaupt existierenden
Perversionen in sich. Die „nonnale" Richtung der Sexualität ent-
stehe nach und nach durch Eindämmungsarbeit, durch Verdrängung
d^er perversen Teilkomponenten, und diese Verdrängung wäre nach
Freud im letzten Grund ein Resultat der Erziehung, ein Macht-
effekt der allgemeinen Anschauung, eine Anpassungsleistung — also
ein Endprodukt alles dessen, was ich die „Summe aller Sug-
gestionen" genannt habe.

Ich definiere Perversion als Übertragung sexu-
eller Triebenergie auf etwas seinem Wesen nach
nicht sexuelles, und nehme an, daß jede wirkliche Perversion,
wie im letzten Grunde jede seelische Störung überhaupt, auf un-
günstige Einwirkung von außen her, auf eine den angeborenen
Anlagen, dem angeborenen Artcharakter und der Individualität
entgegenstrebende Fremdeinwirkung, zurückgeht. Die Summe
aller Perversionen, die allerdings in der Seele des Kindes, und zwar
ausnahmslos jedes Kindes, und ebenso im Unbewußten jedes Men-
schen überhaupt sich haben nachweisen lassen, ist meiner Meinung
nach die Folge der auf jedes Kind und jeden Menschen überhaupt
einwirkenden, im großen ganzen gleichgerichteten Schädlichkeiten,
der universell umgebenden, naturwidrigen Familien- und Milieu-
suggestion. Ich schicke dies hier als Behauptung voraus und werde
später genauer auf diese Dinge zurückkommen.

Ich selber halte nun den „Willen zur Macht', d. h. den
„Ichtrieb" in seiner Gestalt als vergewaltigende Tendenz für
ein sekundäres, im letzten Sinn bereits pathologisches Phänomen,
für die durch ewige Unterdrückung verbildete und zugleich hyper-
trophierte Form jenes ursprünglicben Triebes, den ich als „Trieb
zur Erhaltung der eigenen Individualität in der ihr eigenen, ange-
legten Wesensart" bezeichnet habe. Ich nenne diesen Trieb in seiner
ursprünglichen, also nicht durch Widerstand und Überkom-
pensation veränderten Form, in der er also noch nicht auf Ver-
gewaltigung anderer gerichtet ist, das „revolutionäre
Moment" im psychologischen Sinne.

Ich kann es nun ausschließlich bei einem inneren Konflikt
zwischen einander entgegengeriehteten, koesistenten Trieben für
möglich halten, daß ein Trieb der Verdrängung unterliegt und da-
durch aus dem Unbewußten heraus symbolische Äußerungen findet,
d. h. also, pathologische Symptome schafft. Nur durch die An-
nahme eines inneren Konfliktes scheint mir die
Tatsache der Hy pertr ophierung eines Triebes ver-
ständlichzu werden.. Und eine solche Hypertrophierung stellt
doch der Wille zur Macht, der vergewaltigende „Ich-
trieb" im Sinne Adlers, dem ursprünglich en Selbstschutz-
instinkte gegenüber dar, den ich als „revolutionäres Mo-
ment" bezeichnet habe.

, Mit anderen Worten: der „Ich trieb" im Adler sehen
Sinne, der „Wille zur Macht" in seiner ungeheuren,
von Adler richtig erkannten psychologischen Be-
deutung ist nur verständlieh als eine Komponente
eines antagonistißchenKräftepaares. Und so erscheint
die Synthese der Adl ersehen mit der Freud sehen Anschau-
ung möglich und geboten, denn die andere Komponentedes
Triebkräftepaares identifiziert sich von selbst mit
der Sexualität im Sinne Freuds.

Wir hätten also die beiden, einander entgegengerichteten
Triebe, den Ichtrieb und die Sexualität, und zwischen
diesen beiden wäre der krankmachende innere Konflikt.

Es ist aber nicht möglich, anzunehmen, daß in der ur-
sprünglichen Anlage, artgemäß prädisponiert,
zwei Triebe angelegt sein könnten, denen natur-
gemäße Bestimmung es wäre, miteinander in einen
unlösbaren, krankmachenden Konflikt zu geraten.
Wir müssen hier annehmen, daß durch allgemeinwirkende äußere
Schädlichkeiten der ursprüngliche Charakter der an-
gelegten Triebe verändert wird, daß sie durch „Triebverschrän-
kung" — nach Adlers klassischem Ausdruck — mit reaktiven
Impulsen des Individuums in unbewußte, immer fester werdende
Verbindungen geraten, daß sie durch diese „Verschränkungen", ich
ntöehte sagen, mit Verzweiflungsreaktionen des Individuums ent-
arten, daß sie durch Kämpfe mit der Außenwelt und endlich mit-
einander hypertrophieren, so immer mehr konflikterregend werden
und endlieh Ausgangspunkte neurotischer Symptome sind.

Es steht also das Problem: Wodurch geschieht es, daß
die angelegten großen, in ihrem ursprünglichen
Charakter. doch notwendigerweise harmonisch ko-
ordinierten Triebe zu den beiden antagonistischen
Trieb komponenten werden, die nun als „W i 1 1 e zur
Macht", als krankhafter lehtrieb im Sinne Adlers
einerseits und als „al Is exuell" gewordene , alle
Per Versionen umfassende, verdräng ungsbediirf-
tige und Psychoneurosen erzeugende Sexualität im
Sinne Freuds anderseits vor Augen stehen?

Mit anderen Worten: Ich gab vorhin die Definition — die ich
vorläufig als Behauptung hingestellt lasse — : der eigentlich
krankmachende Konflikt ist der Konflikt des
Eigenen und Fremden in uns. Dann, beim Versuch
der Synthese der Adlerschen und Freudschen Lehren hatten
wir gefunden : der prinzipielle innere Konflikt ist
der des Ichtriebs und der Sexualität. Wenn beide An-
nahmen richtig sind, so ergibt sich daraus: die zweitgenannte
Form ist das Resultat von Veränderungen, welche
der ursprüngliche Zustand ders Seelenlebens und
sein ursprünglichster innerer Konflikt — der zwi-
schen Eigenem u n d F r e m d e m — im W i d e r s p i e 1 von
Anpassung und Widerstand, durch „Triebverschrän-
kunge n"undliy per trophierung de rTriebeim gegen-
seitigen Kampf erlitten haben. Es bleibt das Problem :
Durch welche Einflüsse und nach welchen Mechanismen geht diese
Veränderung vor sich?

Vor der ursprünglichen, artgemäß angelegten Sexualität
können wir zusammenfassend wohl nur das eine sagen : die Sexu-
alität als angelegter Triebund also auch die ur-
sprüngliche Sexualität des Kindes ist Trieb nach
Kontakt, im physischen und psychischen Sinne.

Der Trieb nach der Erhaltung der eigenen Indi-
vidualität, wie ich ihn nenne, ist der Verteidi-
gungsinstinkt ziim Schutze aller angelegten
Wesensart mit ihren angeborenen Trieben, mit Ein-
schluß natürlich der Sexualität in ihrer Individua-
lität s g e m ä ß e n Art.

Es ist selbstverständlich, daß diese beiden Triebe mit-
einander zunächst harmonisch koordiniert sein
müssen — wie alle ursprünglichen Triebe und Anlagen überhaupt.

Nun wirkt der Druck der Umgebung auf das Kind als Zwang
zur Anpassung, d. h. als Unterdi'ückungstendenz dem Instinktleben
gegenüber. Die Umgebung versagt dem Kinde den Kontakt im
physisch-sexuellen Sinne überhaupt gänzlich, im psychischen
bindet sie die Aussicht auf Kontakt — • der durch das
verschwindend geringe psychologische Verständnis des Erwachsenen
für das Kind schon auf ein Minimum und fast auf Surrogate be-
schränkt ist — an die Bedingung der Anpassung, des
Verzichtes auf individualitätsgemäßes Sein.

Es ist dies jenes Geschehen, das ich als die "Vereinsamung
des Kindes" durch die bestehenden Milieuverhältnisse bezeich-
net habe").

Ich seile in der Einsamkeit, in die das Kind ver-
setzt wird, den e igentliehen Ursprung aller neuro-
tischen Angst und damit jenes eigentümlich angstvollen, ver-
zweiMt-rücksichtslosen Charakters, der allen aus dem Unbewußten
hervorbrechenden Impulsen ein so spezifisches Gepräge verleiht.

Der erste dem Kinde notwendig gewordene innere Konflikt, der
Konflikt des Eigenen mit dem eindringenden Fremden, verliert also
seine Eeinheit eigentlich schon von Anfang her durch eine Trieb-
verschränkung, die Einen von den eigenen Instinkten,
die Sexualität, mit einer Anpasstingstendenz au
Andere, d. h. mit einer Bereitschaft zur Aufna,hme
von Fremdsuggestionen ztisammenbindet. Der see-
lische Selbsterhaltungsinstinkt hat fortan zu
kämpfen nicht nur gegen die Suggestionen von
außen her, sondern auch gegen die eigene Sexuali-
tät als solche, welche die affektive Energie für die
suggeriertenlnhaltezustellenbegonnenhat.

Und damit hat der eigentliche antisexuelle „Protest" im Sinne
Adlers eingesetzt. Es ist seinem Wesen nach auf Isolierung
gerichtet. Der „Ich trieb" als anti sexuell er Protest ist
jetzt der Instinkt der Selbsterhaltung um jeden
Preis, er zielt auf die Erhaltung der großen Ein-
samkeit um Einen herum durch eigene Kraft.

Erklärlich ist die Existenz und die Entwicklungsrichtung dieses
Triebes allein durch seinen nie aufhörenden Antagonismus
mit einem gleichstarken, immerwirkenden, ent-
gegengerichteten Triebe, den mit der Sexualität als
Kontaktbedürfnis um jeden Preis, welche den Trieb
d^r Anpassung, der Hingabe des eigenen Ich an
andere, der Selbst auf gab e in sich aufgenommen hat.

Damit, daß die infantile Sexualität den Impuls zur
Hingabe des eigenen Ich an Andere, der Unterwerfung
zwecks Vermeidung der Vereinsamung in sich auf-
genommen hat, ist ihr das masochis tische Moment zu eigen
geworden. Wir können sagen, der Masochismus ist der Versuch des
Kindes, sich mit der ihm gegebenen passiven Situation zu identifi-
zieren und so durch Unterwerfung einen gewissen Kontakt mit der
Umgebung zu erlangen. Das treibende Motiv im Maso-
chismus ist die Angst vor der Einsamkeit, Angst vor
der Einsamkeit ist aber ein Motiv, das auch das ganze Leben hin-
durch zur Geltung kommen muß. In den bestehenden Verhältnissen
ist die Art der gegenseitigen Beziehungen der Menschen zueinan-
der — die inneren Gründe für diese Beziehungen sind auch Gegen-
stand unserer Problemstellung hier — in so hohem Grade korrum-
piert, daß die Alternative z.wi sehen Einsambleiben
und sich vergewaltigen lassen wohl jedem und immer
in seinem ganzen Leben entgegensteht. Die infantile Tendenz, durch
Unterwerfung Anschluß zu erreichen, wird damit dauernd erhalten.
Nun haben wir früher gesagt, die masochistische Tendenz ist ein
Sichabflnden-wollen und eine Bejahung der infantilen Situation dem
Erwachsenen gegenüber. Zwar ist ein Mensch wohl selten im spä-
teren Leben in Wirklichkeit so einsam, wie er als Kind gewesen ist,
aber ein Kind hat wenigstens noch die Hoffnung auf eine Er-
leichterung dieser Einsamkeit um den Preis der Unterwerfung.
Durch eine unbewußte Erinnerung an diese Hoffnung fixiert sieh
eine Sehnsucht und Tendenz ins Infantile zurück durchs Leben hin-
diTrch. Wir können also den Masochismus auch defi-
nieren als das Bestreben zur Wiederherstellung
der infantilen Situation den Erwachsenen gegen-
über.

Wir können annehmen, daß der Masochismus ur-
sprünglich und vielleicht wirklich während einer

.bestimmten, einen Zeitabschnitt ausfüllenden Pe-
riode, mit der Sexualität als solchen, als dem Kon-
taktbedürfnis um jeden Preis, zu einer Einheit zu-
sammenschmilzt. Demgegenüber stellt der Selbsterhaltungs-
trieb der Persönlichkeit, als antagonistische Komponente, zunächst
den antisexuellen Protest als solchen dar. Allein es kommt wohl
sehr bald schon dazu, daß die infantile Tendenz, durch
Unterwerfung zum Kontakt mit den Anderen zu
kommen, auch rein dem sexuellen Bedürfnis gegenüber als

. unzureichend empfunden wird. Die Angst der Einsam-
keit, die sexuelle Isolierung selbst muß auch die Tendenz entsprin-
gen lassen, den sexuellen Kontakt, wenn auch nur in' grobphysischer
Form, und doch auch irgendeine surrogative Art von seelischer
Beziehung, wenn möglich, erzwingen zu wollen. Das Kind
hat die verzweifelte Sehnsucht, erwachsen zu sein: dies Er-
wachsen seinwollen ist seinem Wesen nach, in ge-
nauem Gegensatz zur Lage der Dinge beim Maso-
chismus, ein souveräner Inhalt der Selbsterhal-
tung stendenz.

Erwachsensein und überhaupt stark sein bedeutet aber
auch eine Aussicht auf Erfüllung des Wunsches, sich Sexuali-
tät erzwingen zu können. So kommt es zu einem Kom-
promiß zwischen der Sexualität und der Selbst-
erhaltungstendenz in ihrer hypertrophischen
Form, zu einer Triebverschränkung von Sexuali-
tät und Willen zur Macht. Gerade der seelische Zustand des
Kindes, die Einsamkeitsangst und das Ohnmachtsgefühl, die seinem
Unbewußten einen der Angst naheverbundenen Gehalt von Haß
und Rache verleihen, führen zu den oft so gewaltsamen und
grauenhaften Charakterzügen der Vergewaltigungstendenz. Das
Verbindungsresultat der Sexualität mit dem Wil-
len zur Macht, in seinem Wesen ein Kompromiß-
gebilde aus Angst vor der Einsamkeit und Willen
zur Erhaltung der Einsamkeit, ist die sadistische
Triebkomponente.

Wir können also sagen: Es wird durch äußeren Druck, durch
die das Kind umgebende Alternative zwischen Selbsthingabe und
Einsamkeit in jedem Menschen ein masochistisches
Moment geschaffen als Ausdruck der Unüberwind-
lichkeit des Bedürfnisses nach Kontakt.


- Otto Gross

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen