Sonntag, 9. Mai 2010

Moralische Restgröße

Der Mythos von der menschlichen Identität, diese Vision von den gemeinsamen Bedürfnissen und den geteilten Leiden aller Menschen,
die den Betrachter und den Leidenden aneinander bindet, ist selbst voller Ambivalenz. Weiße Fernsehzuschauer, die für schwarze Opfer auf der anderen Seite der Welt
Schecks ausstellen, kombinieren diese Großzügigkeit eventuell mit einem gänzlich anderen Verhalten gegenüber Schwarzen zu Hause.
Zu den Freuden der Empathie gehört das Verdrängen ihrer Widersprüchlichkeit. Der Vorwurf, dass Anteilnahme über eine so große Entfernung hinweg nichts anderes als ein weiterer
Mythos sei, mit dem man sich täusche, basiert unausgesprochen auf einem moralischen Mythos ganz anderer Art: dass nämlich ein ungeteiltes, auf der Gemeinsamkeit des Erlebens
beruhendes "Mitleiden" nur zwischen Menschen mit gleicher gesellschaftlicher Identität, beispielsweise der gleichen Klasse, möglich sei. Die Idee der Klassenidentität ist jedoch nicht
weniger mythisch, nicht weniger imaginär als die der universellen menschlichen Bruderschaft. Die Ethik, die sich daraus ableitet, muss die Welt in wir und sie, in Freunde und Feinde teilen.
Der auf Klassensolidarität beruhende moralische Internationalismus hatte seine Stunden des Ruhms - beispielsweise während des Einsatzes der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg -aber auch seine Stunden der Schande. Als die sowjetischen Panzer nach Ungarn und in die Tschechoslowakei rollten, teilte man den Soldaten mir, man habe ihre Einheiten
in Marsch gesetzt, damit sie ihren Kameraden gegen den gemeinsamen Klassenfeind zu Hilfe eilen könnten. Den Klassenfeind ausrotten, lautete das moralische mot d´ordre für die Gräuel, die
die Sowjet- und Partisanenarmeen nach dem Zweiten Weltkrieg begingen, von den Reisfeldern Kambodschas ganz zu schweigen. Wenn der labile Internationalismus des Mythos von der menschlichen Brüderlichkeit als moralische Kraft in die moderne Welt zurückgekehrt ist, dann deshalb, weil sich die partikularen Ausdrucksformen menschlicher Solidarität - Religion,
ethnische Zugehörigkeit und Klasse - durch das in ihrem Namen begangene Morden selbst entehrt haben.
Der "bürgerliche Humanismus" des 19.Jahrhunderts bezog seine Inspiration aus der politischen Ökonomie des Freihandels - und ihrer Vision von einer Völkergemeinschaft, die in einem einzigen Weltmarkt zusammenzuführen sei; eine Universalität die vor allem verstand, die minderwertigeren Rassen dem Gesetz der Zivilisation zu unterwerfen.
Im 20. Jahrhundert gründete die Idee der allgemeinen Menschenrechte weniger auf Hoffnung, denn auf Angst, weniger auf Zuversicht angesichts der menschlichen Fähigkeit zum Guten, denn auf
der Angst vor der menschlichen Fähigkeit zum Bösen, weniger auf einer Vision vom Menschen als dem Schöpfer seiner Geschichte, sondern auf der Vorstellung vom Menschen als des Menschen Wolf. Die Haltepunkte auf der Straße zu diesem neuen Internationalismus hießen Armenien, Verdun, die russische Front, Auschwitz, Hiroshima, Vietnam, Kambodscha, Libanon, Ruanda und Bosnien. Das Jahrhundert des totalen Krieges hat uns alle zu Opfern gemacht, Zivilisten wie Militärangehörige, Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der sich Gewalt - ebenso wenig wie Mitleid und Mitgefühl - entlang den Kategorien von Volk, Rasse, Religion oder Nation verteilt. Sosehr die neuen Technologien eine neue Form des Krieges und ein neues Verbrechen - Völkermord - hervorgebracht haben, sosehr wurden wir auch Zeuge der Entstehung eines neuen Typs des Opfers. Krieg und Genozid haben die moralischen Grenzposten von Staatsangehörigkeit, Rasse und Klasse geschleift, die einst die Verantwortung zuteilten, den in Not geratenen zu helfen. Wenn wir es heute als selbstverständlich betrachten, dass wir auch für
Fremde, die Leiden, Verantwortung tragen, dann deshalb, weil wir uns im Angesicht des Jahrhunderts totaler Zerstörung schämen für unsere Parzellierung moralischer Verantwortung nach Nation,
Religion und Region, die dazu führte, dass man die Juden im Stich ließ. Der moderne Internationalismus beruht auf der Erfahrung einer neuen Art von Verbrechen: das Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.
Hungersnöte und ethnische Kriege reduzieren sehr viele unterschiedliche Individuen auf exakt gleiche Einheiten reinen Menschseins. In den Lagern, die vor über sechzig Jahren Nordosteuropa übersäten, wurden Bauen aus Polen, Bankiers aus Hamburg, Zigeuner aus Rumänien, Ladenbesitzer aus Riga - jeder Einzelne mit einer besonderen sozialen Identität und einer anderen
Beziehung zu seinem Unterdrücker - auf den Amboss des Leidens gelegt und umgeschmiedet, bis sie nicht mehr zu unterscheiden waren und schließlich dem Vergessen überantwortet wurden.
In den Lagern Äthiopiens wurden Christen aus dem Hochland, Muslime aus dem Tiefland Eritreer, Tigrays, Afar und Somali auf dem Amboss des Leids zu gleichen Opfern geschlagen.
In diesem Prozess der Spaltung wird jeder Einzelne von den sozialen Beziehungen getrennt, die ihn in normalen Zeiten seines Lebens gerettet hätten. Hungersnöte zerstören, ebenso wie Völkermord,
das Kapilarsystem der sozialen Beziehungen, das allein das System individueller Ansprüche zu tragen vermag. Und genau dadurch bringen sie ein neues menschliches Subjekt hervor -
das reine Opfer, das seiner sozialen Identität und somit der besonderen moralischen Zuhörerschaft beraubt ist, die normalerweise zur Stelle wäre, um seinen Hilferuf zu hören. Für diese Menschen haben die Familie, der Volksstamm, der Glaube, die Nation als moralisches Publikum aufgehört zu existieren.
Wenn diese Menschen überhaupt gerettet werden können, dann müssen sie ihre Hoffnung in das gefürchtetste aller Verhältnisse der Abhängigkeit setzen: in die Wohltätigkeit von Fremden.
Die Brüderlichkeit aller Menschen kann unter diesen Bedingungen als moralische Restgröße der Verpflichtung unter Fremden verstanden werden, die dann in Kraft tritt, wenn sämtliche anderen sozialen Beziehungen, die einen Menschen retten können, zerstört worden sind.
Es ist eine moralische Binsenweiseit, die im 20.Jahrhundert in einem bis dahin nicht vorstellbaren Ausmaß auf den Prüfstand gelangte, dass es so etwas wie die Liebe zur menschlichen
Rasse nicht gibt, sondern nur die Liebe zu diesem oder jenem Menschen, jetzt und an diesem Ort. Moralische Verpflichtungen, so heißt es immer, seien sozial, kontextuell, relational und
historisch. Doch wie soll man dann jenen helfen, deren soziale und historische Beziehungen vollkommen zerstört worden sind ?
Das Leben der Menschen wird heute mit einer ganzen Reihe neuer Verhältnisse konfrontiert - über Kontinente sich ausdehnende Hungersnöte, ökologische Katastrophen und Völkermord -, die Opfer schaffen, die keinerlei soziale Beziehungen mehr haben, die imstande wären, für Rettung zu sorgen, und daraus folgt, dass eine Ethik der universalen moralischen Verpflichtung unter Fremden notwendig geworden ist, damit das Leben auf unserem Planeten eine Zukunft hat. Zweifellos wird eine solche Ethik der Verpflichtung, was unseren moralischen Willen betrifft, stets an zweiter Stelle rangieren, den Aufmerksamkeiten untergeordnet, mit denen wir einen Bruder, eine Schwester, einen Mitbürger, einen Glaubensbruder oder eventuell noch eine Arbeitskollegin großzügig unterstützen. Doch nur mit Hilfe dieser schwachen, unbeständigen Ethik, dieses unpersönlichen Engagements für Fremde werden Opfer auf der ganzen Welt hinter dem Zaun jemanden finden, der ihnen zu essen gibt.
Für diese leise moralische Sprache und die neue Erfahrung des weltweiten Opferseins, auf die sie einzugehen versucht, ist das Fernsehen wie das Internet das Medium der Wahl.
Es gibt Moden auf dem Gebiet der Moral, ebenso wie es Moden auf dem Gebiet der Kleidung gibt. Das Fernsehen folgte während des Vietnamkrieges moralischen Moden: Es schuf sie nicht. Nur Fernsehmacher glauben, das Fernsehen habe verhindert, dass die USA den Krieg gewannen. Wenn die vorherrschende Ethik des Fernsehens heute darin besteht, dass es keine gute Sache mehr gibt - sondern nur noch Opfer von Ideologien -, dann ist es nicht auszuschließen, dass das Medium nicht auch der nächsten moralischen Mode erliegen wird. Es besteht sogar die Gefahr, dass der gesunde Zynismus des Fernsehens gegenüber "einer guten Sache" in eine oberflächliche Form der Misanthropie umschlägt. Die Ethik des Opferseins ruft nur dann Empathie hervor, wenn die Opfer offensichtlich schuldlos sind. Doch in den modernen Bürgerkriegen, in denen die Unterscheidung zwischen Zivilist und Kombattant häufig verwischt und der Nachbar seinen Nachbarn töte, fällt es schwer, zwischen Unschuldigen und Schuldigen zu unterscheiden. Die zwischen dem Schutt verstreuten Leichen lassen jeden Bemühen, mehr zu verstehen, überflüssig erscheinen: Die Menschen sind in einer Spirale der Gewalt gefangen, wobei jeder Einzelne gute Gründe hat, den anderen zu töten, und alle Gründe gleich verrückt sind. Die fernsehgerechte Aufbereitung der Leichen fördert ein Nachlassen des Bemühens zu verstehen. Dort, wo es der Empathie nicht gelingt, das schuldlose Opfer ausfindig zu machen, findet das Gewissen Trost in oberflächlicher Menschenverachtung. Das Grauen der Welt liegt nicht nur in den Leichnamen, nicht nur in den Folgen, sondern auch in den Absichten, im Bewusstsein der Mörder.
Angesichts der starken Überzeugungskraft der Ideologien des Tötens ist die Versuchung, Zuflucht in moralischer Empörung zu suchen, sehr groß. Trotzdem ist Empörung ein schlechter Ersatz für Nachdenken.
Die Folge ist, dass den Fernsehnachrichten eine gewisse Verantwortung zukommt für jene allgemeine Misanthropie, jene reizbare Resignation angesichts des kriminellen Wahnsinns von Fanatikern und Attentätern die eine der gefährlichsten Stimmungen unserer Zeit rechtfertigt - nämlich das Gefühl, die Welt sei viel zu verrückt geworden, als dass es sich noch lohnen würde, ernsthaft über sie nachzudenken.



- Michael Igantieff

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