Mittwoch, 27. Juli 2011

Utoya – über einen radikalen Verlierer und ein Buch das nicht gedruckt gehört

Ein braunes Sakko. Eine abscheuliche silberne Krawatte. Ein weißes Hemd. Modische Erneuerungen entsprechen den in der Tierwelt entdeckten Anpassungserscheinungen. Durch verschiedene Umstände bedingt, ruft die alte Form quasi die neue hervor, doch die von mir beschriebenen Ingredienzien sprechen eher für etwas altes, verbrauchtes, überflüssiges. Sie sprechen für Plunder oder Kitsch. Aber stoppen wir nicht beim Hemdkragen. Ein milchiges Gesicht in das ein grotesker Mund gefranst wurde, lugt gen Kamera. Was die toten, kristallinen Augen in diesem Moment wohl sehen mögen ? Und was geht dem Ich hinter diesen Augen durch den Kopf ? Das blonde Haare fällt frisiert ins Gesicht und markiert doch gleichzeitig nichts. Wenn man einen Schritt zurückgeht und das Counterfeit von Anders Behring Breivik so betrachtet, könnte man auf die Idee kommen, dass sein Gesicht auf dem Computer erstellt worden ist. Er wirkt so merkwürdig unecht. Wie eine Puppe, die von vornherein dazu verdammt ist, ein ewiger Ladenhüter zu sein. Die Medien benutzen sehr gerne seine Facebook-Photos und es wird beim weiteren Lesen nicht überraschen, dass er die Bilder vor seiner Tat genau deshalb knipste. Was man auf den Bildern sieht, ist die Blaupause eines charakterlosen Menschen, einer Mogelpackung. Ob er diesen Charakter während seines fünfjährigen Studiums verlor oder während seiner nicht enden wollenden 12Stunden-Schichten bei der Firma „E-Commerce Group“ oder vielleicht nie einen Charakter aufbauen konnte, da sich seine Eltern bereits ein Jahr nach seiner Geburt scheiden ließen, ist unklar. Fest steht das er zu mindestens eine Weile dafür Ersatz in der „Fremskrittspartiet“ bekam. Die „Fortschrittspartei“ ist eine von diesen Bauernfängern-Parteien, die spätestens seit dem Einsetzen der Finanzkrise deutlich an Zuspruch gewonnen haben.
Er erreichte so auch ein Pöstchen im Vorstand des Ortsverbandes Oslo West. Hinzu kamen noch Mitgliedschaften in der Freimaurerloge „St.Olaus til de tre Soiler“ und dem Sportschützenverein „Oslo Pistolklubb“. Außerdem schrieb er in seiner Freizeit nicht nur manisch für die islamkritische Website document.no, sondern verfasste auch ein 1516 Seiten umfassendes Pamphlet. Was wir hier haben, ist kein Amokläufer, sondern ein eiskalter Auftragskiller in eigener Sache. Für einen Amokläufer, wie wir ihn popkulturell mittlerweile schätzen, war er in seinem Leben schlicht und ergreifend zu fleißig und ist außerdem zu alt. Die Dylan Klebolds dieser Welt werden in den seltensten Fällen älter als 20. Zum einen sind sie die letzte Entwicklungsstufe des Phänomens Rockstar, denn durch das Auslöschen von etwa ein dutzend Menschenleben begeistern sie Millionen. Zum anderen sind sie wirklich offensichtliche Verlierer: weitesgehend hobbylos, meist aus sozial komplett dysfunktionalen Familien der unteren Mittelschicht stammend, intelligent aber mit einem beträchtlichem Aufmerksamkeitsdefizit versehen. Sie sind die Spitze des Eisberges einer Generation die reflexiv impotent ist. Sie wissen, dass die Dinge schlecht sind, aber vielmehr als das, wissen sie auch das sie nichts daran ändern können. Aber dieses Wissen hat ja nichts reflexives. Es ist die passive Beobachtung bereits bestehender Dinge, eine selbsterfüllende Prophezeiung. Selbstredend werden sie auch das wissen. Dieser depressive Hedonismus äußert sich in erster Linie daran, nichts aber auch gar nichts außer dem eigenen Privatvergnügen verfolgen zu können. Sicherlich besteht das Gefühl, dass etwas fehlt – aber das Verständnis, dass dieses geheimnisvolle Fremde, nämlich echte Freude nur jenseits des Lustprinzips zu finden wäre, fehlt Ihnen komplett. Das liegt zu großen Teilen daran, dass das emotionale Leben zwischen ihrem Dasein als Schüler und somit Teil einer Institution im realen Leben und ihrem Dasein als Konsumenten in den Web 2.0 Plattformen dieser Welt zerwalzt wird. Da bleibt am Ende nur das, was wir aus Filmen eines George A. Romero kennen: Fressen und Töten. Es sind Zombies. Sie entstehen nicht durch das Fehlverhalten der Eltern oder durch Ausgrenzung der Mitschüler. Sie entstehen durch diametral verlaufende Strukturen, die die Persönlichkeitsentwicklung diffamieren.
Anders Breivik dagegen ist von seinem Profil her eher ein Streber und Macher. 1516 Seiten schreiben sich nicht von alleine. Dazu kommen noch Mitgliedschaften in einem Sportverein, eine Tätigkeit in einer Partei und den Freimaurern, das Bewirtschaften eines Hofes und die zwölf Stunden tägliches Arbeitspensum wollen wir auch nicht vergessen. Kurz bevor die internationale Mediengemeinschaft ihn kennenlernte, half er noch mit die Norwegian Defence League NDL aufzubauen. Seilschaften müssen gepflegt werden. In einem Sportverein müssen Leistungen erbracht werden. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Hyperaktiver, der stets auf der Stelle trampelte, weil er sich dadurch einen Standpunkt erhoffte. Er ist jemand der leicht begeisterungsfähig ist. Mit Sicherheit gehört Geduld nicht zu seinen Tugenden. Dagegen steht allerdings eine wirklich unmenschliche Beharrlichkeit und ein eiserner Willen. Schließlich lautet seine Email-Adresse schon seit 2009 year2083@gmail.com. Beinhaltet also den Namen des Pamphlets, dass er durch das Blutbad auf der Ferieninsel Utoya und dem Bombenanschlag in der Innenstadt von Oslo, verbreitet sehen möchte. Der Anschlag und der Mord an beinahe 100 Menschen war also im wesentlichen eine PR-Maßnahme. Breivik wusste genau welche mediale Wirkung ein Attentat hervorrufen würde und die Schockwellen des Ganzen kann man im Minutentakt in der Blogosphere miterleben. So beeilt sich jeder Blog der sich mit den Attributen „patriotisch“, „national“, „pro-westlich“, „anti-islamistisch“ oder „kapitalistisch“ benennt, schleunigst von ihm zu distanzieren. Die Spannbreite reicht da vom wirklichen Entsetzen bis hin dazu dass einer aus der eigenen politischen Kaste tatsächlich so blöd ist und die „Sache“ derart diskrediert. Die Krone des Ganzen stellen die schwedischen Neonazis, die sich ausdrücklich von seiner Tat distanzieren, da er als Freimaurer Teil der jüdischen Weltverschwörung sei. Natürlich haben sie jetzt alle berechtigterweise Schiss und ich gönne jeden einzelnen von Ihnen die ein oder andere Spamattacke und wenn es Bußgeldstrafen für die Betreiber einzelner Seite hageln sollte, so werde ich mit einem Lächeln im Gesicht einschlafen. Fakt es jedenfalls dass es nach Europol zwischen 2006 und 2009 1770 terroristische Anschläge in Europa gab. Nur 6 der 1770 Anschläge hatten einen islamistischen Hintergrund. Dagegen hatten 1596 der 1770 Anschläge einen rechtsextremen Hintergrund. Das Gesäusel, man habe das nicht gewusst oder so nicht gewollt, kann man sich also getrost sparen. Gerade in der äußersten politischen Rechten wimmelt es von einsamen Wölfen. Genau genommen hat die äußerste politische Rechte wahrscheinlich wirklich ungewollt die neue Angriffs-Taktik der Islamisten übernommen. Dort gibt es genau zwei Feldeinheiten: den Bibliothekar und den autistischen Gewalttäter. Der Bibliothekar stellt Informationen mit dem Schwerpunkt zur Verfügung, wie man so viele unschuldige Menschen möglichst öffentlich und medienwirksam ermorden kann. Der autistische Gewalttäter führt das Ganze dann aus. Diese Struktur hat den Vorteil, dass sie genau genommen eigentlich keine Struktur mehr ist. Die Leute kennen sich nicht untereinander. Man kann noch nicht einmal von Gruppierungen reden. Es sind Amöben. Sie hinterlassen ihren Kot hier und da und das war es. Dagegen wirkt Bakunins „Anarchistischer Katechismus“ wie ein süsser, warmherziger Schmöker.
Jedoch ist Breivik kein Neo-Nazi im „klassischen“ Sinne. Dazu ist er zu anpassungsfähig und agil. Seine Weltsicht ist ein krudes Durcheinander aus christlichem Fundamentalismus und pro-westlichen Versatzstücken, dass er mit der Effizienz einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verbindet. Breivik ist eher ein Vernunftmonster. Pure Vernunft siegte bei ihm und das kostete 86 Jugendliche das Leben. Er wird ein gefragter Arbeitnehmer gewesen sein. Jemand der gerne Überstunden macht und sich Arbeit mit nach Hause nimmt. Seine Tat ist ein postmodernes Product-Placement, denn um die Aufmerksamkeit auf sein Machwerk zu richten, bei dem kein Verleger dieser Welt auch nur zwei Sekunden überlegt hätte, ob er es veröffentlichen sollte, dezimierte er den Nachwuchs des politischen Feindes. Die Insel Utoya ist ja keine einfache Bettenburgenfestung. Seit Jahrzehnten befindet sie sich im Besitz der norwegischen Sozialdemokratie. Es dürfte wenige norwegische Sozialdemokraten geben, die dort nicht schon einmal gewesen sind.
Die deutsche Wikipedia-Seite bietet mir unter Product-Placement folgende Beschreibung an:
„Als ´Product-Placement´ wird die im Austausch gegen Geld/Vorteile vorgenommene Integration des Namens, des Produktes, der Verpackung, der Dienstleistung oder des Unternehmenslogos eines Markenartikels oder eines Unternehmens in Massenmedien, ohne dass der Rezipient dies als störend empfinden soll, bezeichnet.“ Der Rezipient sind in dem Fall wir. Empfinden wir es als nicht störend ? Können wir also damit rechnen das „Year 2083“ eine Veröffentlichung sagen wir mal bei Suhrkamp erfährt ? Ich hoffe nicht. Aber wie das Verb hoffen schon vermuten lässt: Gepusht wird was sich eben verkaufen lässt und auf Grund des Hintergrundes dieses Buches dürfte ein Verleger damit durchaus einen Reibach erzielen. Da sich die Tragödie im Wesentlichen auf einer Ferieninsel ereignete, schoß mir beim ersten Sehen der Nachrichtenbilder automatisch der erste Teil von „Freitag, der 13.“ durch den Kopf. Nur waren es dort eine Handvoll Jugendlicher, nicht 86. Wikipedia gibt zum Product-Placement beim Themenschwerpunkt Film folgendes an:“ Product-Placement ist die gezielte Einbringung von Markenprodukten in die Handlung von Filmen. Das Ausmaß der Integration der Marke reicht von der Platzierung als Requisite, wobei die Marke für den Zuschauer deutlich erkennbar gezeigt wird, bis hin zum Verbal Product Placement, d. h. der namentlichen Nennung der Marke im Filmgeschehen. Für die Platzierung von Produkten werden, in der Regel, Geld- oder Sachzuwendungen geleistet. Richtig angefangen hat dies ungefähr Ende der 1960er Jahre, als die Produktionskosten der Filme explosionsartig stiegen.“ Breiviks Tat erreicht bei Weitem cineastistische Dimensionen. Man wird nicht lange auf eine Verfilmung warten müssen. Dabei ist die Tat als solche alleine schon ein Film gewesen, nur das die Kameras halt eben fehlten. Und wenn wir seine Tat als hyperreal werten, erfährt die baudriallardische Weisheit, das der einzige noch funktionierende politische Referent die schweigende Mehrheit ist, hier seine grauenhafte Inversion – es sind die toten Kinder. Für sie gibt es wirklich keine mögliche Representation mehr, doch Anders Behring Breivik besitzt die Dreistigkeit uns dafür seinen unlesbaren Zettelhaufen als Austausch anzubieten.
Im Wesentlichen handelt es sich bei „Year 2083“ um eine Copy+Paste-Orgie mit Texten des Bloggers Fjordman. Dieser hat nach eigenen Angaben Breivik nie persönlich kennen gelernt. Er dachte zu erst, wie wohl die Mehrheit von uns, dass es sich um einen dschihadistischen Angriff handle, dann wurde ihm langsam aber sicher bewusst, es könnte jemand aus der eigenen Leserschaft sein und leider genau dort endet auch seine Skepsis. Breivik ist in Fjordmans Augen ein christlicher Islamist und Fjordman sei ja gegen Islamismus. Es ist die narzisstische Kränkung eines Intellektuellen, aber nicht mehr und genau das ist zu wenig. Halten wir also fest:
Den Neonazi gibt es so nicht mehr. An dem Tag an dem man damit begann, Neonazis in diversen Onlineforen systematisch zu erfassen, wurden sie unsichtbar und zu Jedermanns. Nun sind diese Jedermanns geteilt in die Puristen und die Erneuerer. Die Puristen trauern weiterhin Hitler und dem 3.Reich hinterher. Sie sind gewalttätig, aber die Harmloseren von beiden. Die Erneuerer haben sie sich eine neue politische Heimat gesucht: den (Neo)-Konservativismus und den (Neo)-Liberalismus. Das gelang zum einen dadurch, weil es vermeintlich pro-westlichen Foren, Blogs, etc. ein wenig zu egal ist, wer sie denn liest und konsumiert. Zum anderen stellt es insbesondere für den Liberalismus kein Problem da in Halbheit stecken zu bleiben, also das Dulden der Kreuzung völlig absurder Positionen einfach hinzunehmen. Dabei besteht das psychopathologische Potential des Nazismus ja seit je her darin jede Form kognitiver Desintegration, also die fraglose Koexistenz völlig widersprüchlicher Annahmen einfach zu akzeptieren. Wir als Menschen haben in Europa ein Problem. Zum einen wird die politische Kultur durch diese Erneuerer des Ewiggestrigen noch mehr verstümmelt als sie ohnehin schon ist, denn der Gesetzgeber muss davon ausgehen, dass die Wahl zwischen konfligierenden Alternativen in einem Blutbad endet. Das heißt die Sphäre des Politischen wird zunehmend unbrauchbar um die pluralistische Natur der Welt des Sozialen und ihren Konflikten angemessen zu begreifen und dementsprechend zu handeln. Die einzige Möglichkeit dem Entgegenzuwirken wäre ein Konsens und da jeder Konsens auf Akten der Ausschließung fußt, müssten wir Neonazis und Kryptofaschisten (also unpolitische Maulhelden, Pseudo-Konservative und Pseudo-Liberale) aus der Gesellschaft verbannen und zwar für immer. Das hieße aber auch, das wir eine Gesellschaft, die auf Vernunft aufgebaut ist an akta legen. Wollen wir das auch nicht, müssen wir Neonazis und Islamisten erdulden, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass sie sich nicht ausbreiten. Da eine politische Identität aber sich nur dann formen kann, wenn es etwas „anderes“ gibt, da die Identität relational ist, wird es zunehmend unmöglich eine politische Identität aufzubauen oder die Konflikte zwischen den Parteien/Fraktionen müssten in einem Rahmen bleiben, die die politische Gemeinschaft nicht zerstören und genau darauf haben es ja Neonazis und Islamisten abgesehen, denn wenn die Tat auf Utoya eines beweist, dann folgendes: Ihre Ehre heißt Feigheit. Sein Name ist Anderes Behring Breivik. Wir haben es hier mit einem ideologischen Wirrkopf zu tun, der über exzellentes Wissen im Bereich des Marketings verfügt und darüber hinaus ein gutes Planungsvermögen sein Eigen nennen kann. Gleich einem schlechten Karaoke- Sänger imitiert er den Typus des Schulamokläufers um sich auf nekrophile Art und Weise seine nicht vorhandene Jugend zu sichern und um gleichzeitig sein Vermächtnis möglichst öffentlichkeitswirksam weiterzureichen. Die toten Kinder erscheinen so als zynische Variation des Orson Welleschen „Rose Bud“ und das Buch „Year 2083“ ist ein Grabstein, aber das war es schon immer.


- JORIS J.

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