Donnerstag, 30. Juli 2009

Über die Autorität


Unsere gesellschaftlichen Institutionen basieren auf bestimmten Vorstellungen und solange diese hingenommen werden, sind die Institutionen nicht gefährdet. Die Macht der Regierung bleibt erhalten, weil die Menschen der Meinung sind, daß politische Autorität und gesetzlicher Druck notwendig sind. Der Kapitalismus bleibt solange bestehen, wie dieses System als vernünftig und richtig erachtet wird.
Der Krieg, die russische Revolution und die Nachkriegsentwicklung haben das ihre dazu beigetragen, daß viele vom Sozialismus enttäuscht sind. Es trifft buchstäblich zu, daß der Sozialismus genauso wie das Christentum die Welt erobert hat und sich dabei selbst zerstört. In den meisten europäischen Ländern regieren jetzt sozialistische Parteien oder sind an der Regierung beteiligt, aber die Menschen glauben nicht mehr, daß diese Parteien sich von den bourgeoisen Regimen unterscheiden. Sie haben das Gefühl da8 der Sozialismus versagt hat und handlungsunfähig geworden ist. In ähnlicher Weise haben die Bolschewisten bewiesen, daß marxistisches Dogma und leninistische Prinzipien nur zu Diktatur und Reaktion führen können.
Für die Anarchisten ist das alles nicht überraschend. Sie haben schon immer behauptet, daß der Staat auf die individuelle Freiheit und die Harmonie in der Gesellschaft einen verderblichen Einfluß hat und daß nur die Abschaffung der auf Zwang beruhenden Autorität sowie der materiellen Ungleichheit unsere politischen, wirtschaftlichen und nationalen Probleme lösen kann. Aber ihre Argumente, obwohl durch lebenslange Erfahrung gestützt, erschienen der gegenwärtigen Generation als reine Theorie, bis die Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte die Richtigkeit der anarchistischen Position demonstrierten. Das Versagen des Sozialismus und Bolschewismus hat dem Anarchismus den Weg geebnet.
Wenn ein Bürger eine Soldatenuniform anzieht, dann muß er vielleicht Bomben werfen und Gewalt anwenden. Würden Sie dann sagen, daß Bürgertum für Bomben und Gewalt steht? Diese Unterstellung würden Sie entrüstet von sich weisen. Das heißt werden Sie antworten, daß ein Mensch unter bestimmten Bedingungen eventuell Gewalt anwenden muß. Dieser Mensch könnte ein Demokrat, ein Monarchist, ein Sozialist, Bolschewist oder Anarchist sein. Sie würden der Meinung sein, daß dieses für alle Menschen und alle Zeiten zutrifft. Brutus tötete Cäsar, weil er befürchtete, sein Freund hätte die Absicht, die Republik zu verraten und König zu werden; nicht darum, weil Brutus »Cäsar nicht liebte, sondern er Rom mehr liebte«. Brutus war kein Anarchist. Er war ein loyaler Republikaner.
Wilhelm Tell, berichtet die Volkskunde, erschoß den Tyrannen, um sein Land von der Unterdrückung zu befreien. Tell hatte nie etwas über Anarchismus gehört. Ich erwähne diese Ereignisse, um auf die Tatsache hinzuweisen, daß seit Urzeiten das Schicksal Despoten in Form einer Gewalttat freiheitsliebender Menschen ereilte, die gegen die Tyrannei rebellierten. Im allgemeinen waren die Attentäter Patrioten, Demokraten oder Republikaner, manchmal Sozialisten oder Anarchisten. Ihre Taten waren eine individuelle Rebellion gegen Unrecht und Ungerechtigkeit. Anarchismus hat damit nichts zu tun.
Es gab Zeiten im alten Griechenland in denen das Töten eines Despoten als höchste Tugend galt. Das moderne Recht verurteilt solche Taten, aber das menschliche Gefühl scheint sich in dieser Beziehung von früher nicht zu unterscheiden. Das Gewissen der Welt empört sich nicht über Tyrannenmorde. Auch wenn sie öffentlich nicht gebilligt werden, so verzeiht doch die Menschheit im Herzen solche Taten und ist oft insgeheim darüber erfreut.
Es ist nur natürlich, daß das Land mit den schlimmsten Tyrannen auch die größte Anzahl von Tyrannenmorden aufweist. Nehmen Sie z. B. Rußland. Wegen der totalen Unterdrückung der Redefreiheit und der Presse unter den Zaren konnte das despotische Regime nicht anders gemildert werden, als daß dem Tyrannen »die Furcht vor Gott« eingejagt wurde. Jene Rächer waren meistens Söhne des Hochadels, idealistische Jugendliche, die die Freiheit und das Volk liebten. Da alle anderen Wege versperrt waren, sahen sie sich gezwungen, zu Pistole und Dynamit Zuflucht zu nehmen, mit der Hoffnung, dadurch die miserablen Zustände in ihrem Land zu mildern. Sie waren bekannt als Nihilisten und Terroristen. Sie waren keine Anarchisten.
Die Tat eines serbischen Patrioten, der noch nie etwas von Anarchismus gehört hatte, nämlich die Ermordung des österreichischen Thronfolgers war der eigentliche Grund oder zumindest eine Entschuldigung für den Eintritt in den Weltkrieg. In Deutschland, Ungarn, Spanien, Frankreich, Italien, Portugal und in jedem anderen europäischen Land haben Männer unterschiedlichster politischer Richtungen auf Gewalt zurückgegriffen, ganz zu schweigen von dem politischen Massenterror, der von organisierten Gruppen wie den Faschisten in Italien, dem Ku Klux Klan in Amerika oder der katholischen Kirche in Mexiko praktiziert wird.
Sie sehen also, daß das Monopol der politischen Gewaltanwendung nicht bei den Anarchisten liegt. Der Anteil, der von Anarchisten begangenen Gewalttaten ist vergleichsweise winzig gegenüber dem von Leuten anderer politischer Richtungen. Die Wahrheit ist, daß Gewaltanwendungen seit undenkbaren Zeiten in allen Ländern und in jeder sozialen Bewegung ein Teil des Kampfes gewesen ist. Selbst der Nazarener, der gekommen war, um das Evangelium des Friedens zu predigen, vertrieb die Geldwechsler gewaltsam aus dem Tempel. Wie ich schon sagte, besitzen die Anarchisten nicht das Monopol für Gewalt.
Wohin Sie auch blicken, Sie werden feststellen, daß unser gesamtes Leben auf Gewalt oder der Angst davor aufgebaut ist. Von frühester Kindheit an sind Sie der Gewalt der Eltern oder der Erwachsenen ausgesetzt. Zu Hause, in der Schule, im Büro, in der Fabrik, auf dem Feld oder in der Werkstatt haben Sie immer jemandem gehorsam zu sein und seine Autorität zwingt Sie, seinen Willen auszuführen. Das Recht, Sie zu zwingen, nennt man Autorität. Angst vor Bestrafung wurde zur Pflicht gemacht und heißt Gehorsam. In dieser Atmosphäre des Zwangs und der Gewalt, der Autorität und des Gehorsams, der Pflicht, Angst und Bestrafung wachsen wir alle auf; wir atmen sie unser ganzes Leben lang ein. Wir sind derart durchtränkt mit dem Geist der Gewalt, daß wir nie innehalten und fragen, ob Gewalt richtig oder falsch ist. Wir fragen nur, ob sie legal ist und ob das Gesetz sie zuläßt.
Sie stellen das Recht der Regierung zu töten, zu beschlagnahmen und einzusperren nicht in Frage. Wenn eine Privatperson und nicht die Regierung sich der Dinge schuldig machen würde, so würden Sie diese als Mörder, Dieb und Schurken anprangern. Aber solange die verübte Gewalt »gesetzlich« ist, billigen Sie sie und unterwerfen sich ihr. Also protestieren Sie in Wirklichkeit nicht gegen die Gewalt, sondern gegen Leute, die Gewalt »ungesetzlich« anwenden.
Diese erlaubte Gewalt und die Angst vor ihr beherrschen unsere gesamte individuelle und kollektive Existenz. Autorität kontrolliert unser Leben von der Wiege bis zum Grab - elterliche, priesterliche und göttliche, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Autorität. Welchen Charakter die Autorität auch haben mag, immer derselbe Vollstrecker übt Macht über Sie mittels Angst vor Bestrafung in dieser oder jener Form aus. Sie haben Angst vor Gott und dem Teufel, vor dem Priester und dem Nachbarn, vor Ihrem Arbeitgeber und Vorgesetzten, vor dem Politiker und dem Polizisten, dem Richter und dem Gefängniswärter, vor dem Gesetz und vor der Regierung. Ihr ganzes Leben besteht aus einer langen Kette von Ängsten - Ängsten, die ihren Körper quälen und Ihre Seele zerreißen.
Auf diesen Ängsten beruht die Autorität Gottes, der Kirche, der Eltern, der Kapitalisten und der Herrscher. Gehen Sie in sich und prüfen Sie, ob ich die Unwahrheit sage. Wie sollte es sonst möglich sein, daß sogar unter Kindern der zehnjährige Jonny seine jüngeren Geschwister dank seiner größeren physischen Kraft herumkommandiert, genauso, wie Jonny’s Vater ihn wiederum auf Grund seiner größeren Kraft und wegen Jonny’s Abhängigkeit bezüglich des Unterhalts herumkommandiert. Sie bestehen auf der Autorität der Priester und Prediger, da Sie glauben, daß diese »den Zorn Gottes auf Ihr Haupt lenken« können. Sie fügen sich dem Willen des Vorgesetzten, des Richters und der Regierung, da diese die Macht haben, Ihnen Ihre Arbeit zu nehmen, Ihr Geschäft zu ruinieren, Sie ins Gefängnis zu werfen - eine Macht übrigens, die Sie Ihnen selbst gegeben haben.


- Alexander Berkman

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