Sonntag, 13. Dezember 2009
Der Massen-Eremit
Die erste Reaktion auf die Kritik, der Rundfunk und Fernsehen hier unterzogen werden, wird lauten: Eine solche Verallgemeinerung sei verboten; es komme ausschließlich darauf an, was wir aus diesen Einrichtungen machen; wie wir uns ihrer bedienen; für welche Zwecke wir sie als Mittel einsetzen: Ob für gute oder für schlecht, für humane oder für inhumane, für soziale oder für antisoziale.
Dieses, aus der Epoche der ersten industriellen Revolution stammende, optimistische Argument – sofern man eine Redensart so nennen kann – ist ja bekannt; und in allen Lagern lebt es mit der gleichen Unbedenklichkeit fort.
Seine Gültigkeit ist mehr als zweifelhaft. Die Freiheit der Verfügung über Technik, die es unterstellt; sein Glaube, dass es Stücke unserer Welt gebe, die nichts als „Mittel“ seien, denen ad lib. „gute Zwecke“ angehängt werden könnten, ist reine Illusion. Die Einrichtungen selbst sind Fakten; und zwar solche die uns prägen. Und diese Tatsache, dass sie uns, gleich welchem Zwecke wir sie dienstbar machen, prägen, wird nicht dadurch, dass wir sie verbal zu „Mitteln“ degradieren, aus der Welt geschafft. In der Tat hat die grobe Zerspaltung unseres Lebens in „Mittel“ und „Zwecke“, wie sie in diesem Argument vollzogen wird, mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Unser von Technik erfülltes Dasein zerfällt nicht in einzelne, säuberlich gegeneinander abgegrenzte, Wegstücke, von denen sich die einen durch das Straßenschild „Mittel“, die anderen durch das „Zwecke“ ausweisen.
Legitim ist die Aufteilung nur bei Einzelhandlungen und isolierten maschinellen Prozeduren. Dort, wo es ums „Ganze“ geht, in der Politik oder in der Philosophie, nicht. Wer unser Leben als ganzes mit Hilfe dieser zwei Kategorien artikuliert, betrachtet es nach dem Modell der zweckbestimmten Handlung, ja bereits als technischen Vorgang: was Zeugnis gerade jener Barbarei ist, übt die man, namentlich wenn sie als Maxime „der Zweck heiligt die Mittel“ auftritt, so gerne empört ist. Die Abweisung dieser Formel bezeugt die gleiche Plumpheit wie deren (übrigens höchst selten ausdrückliche) Bejahung: denn auch der Abweisende bejaht ja, wenn auch ohne es auszusprechen, die Rechtmäßigkeit der zwei Kategorien; auch er konzediert ja, dass deren Anwendung auf das Leben als ganzes legitim sei. Eigentliche Humanität beginnt aber erst dort, wo diese Unterscheidung sinnlos wird: wo Mittel sowohl wie Zwecke von Lebensstil und Sitte derart imprägniert sind, dass angesichts von Einzelstücken des Lebens oder der Welt gar nicht mehr erkannt, ja gar nicht mehr gefragt werden kann, ob es sich ihnen um „Mittel“ handele oder um „Zwecke“; erst dort, „wo der Gang zum Brunnen so gut ist wie der Trunk.“
Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die „Mittel“ vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: UNS.
Ehe man die Kulturwasserhähne der Radios in jeder ihrer Wohnungen installiert hatte, waren die Schmids und Müllers, die Smiths und Millers in die Kinos zusammengeströmt, um die für sie in Masse und stereotyp hergestellte Ware kollektiv, also auch als Masse, zu konsumieren. Es läge nahe, in dieser Situation eine gewisse Stileinheit: eben die Kongruenz von Massenproduktion und Massenkonsum, zu sehen; aber das wäre schief. Nichts widerspricht den Absichten der Massenproduktion schroffer als eine Konsumsituation, in der ein und dasselbe Exemplar einer Ware von mehreren oder gar zahlreichen Konsumenten zugleich genossen wird. Für das Interesse der Massenproduzenten bleibt es dabei gleichgültig, ob dieser gemeinsame Konsum ein „echtes Gemeinschaftserlebnis“ darstellt, oder nur die Summe vieler Individualerlebnisse. Worum es ihnen geht, ist nicht die massierte Masse als solche, sondern die in eine möglichst große Anzahl von Käufern aufgebrochene Masse; nicht die Chance, dass alle dasselbe konsumieren, sondern dass jedermann auf Grund gleichen Bedarfs das Gleiche kaufe. In zahllosen Industrien ist dieses Ideal vollständig, oder doch nahezu, erreicht. Dass es von der Filmindustrie optimal erreicht werden kann, scheint mir fraglich. Und zwar deshalb, weil diese, die Theatertradition fortsetzend, ihre Ware noch als eine Schau für Viel zugleich serviert. Das stellt zweifellos einen altertümlichen Restbestand dar. Kein Wunder, dass die Rundfunk- und TV-Industrie mit dem Film trotz dessen gigantischer Entwicklung, in Wettbewerb treten konnten: beide Industrien hatten eben die zusätzliche Chance, außer der zu konsumierenden Ware auch noch die für den Konsum erforderlichen Geräte als Waren abzusetzen; und zwar, im Unterschiede zum Film, an beinahe jedermann.
Und ebenso wenig erstaunlich, dass beinahe jedermann zugriff, da die Ware, im Unterschied zum Film, durch die Geräte ins Haus geliefert werden konnte. Bald saßen also die Schmids und die Smiths, die Müllers und die Millers an vielen jener Abende, die sie früher zusammen in Kinos verbracht hätten, zu Hause, um Hörspiele oder die Welt zu „empfangen“. Die im Kino selbstverständliche Situation: der Konsum der Massenware durch eine Masse, war hier also abgeschafft, was natürlich keine Minderung der Massenproduktion bedeutete; vielmehr lief die Massenproduktion für den Massenmenschen, ja die des Massenmenschen selbst, auf täglich höheren Touren. Jeder wurde durch dieses en masse Hergestellte als Massenmensch, als „unbestimmter Artikel“ behandelt; jeder in dieser seiner Eigenschaft, bzw. Eigenschaftslosigkeit, befestigt. Nur, dass eben, und zwar durch die Massenproduktion der Empfangsgeräte, der kollektive Konsum überflüssig geworden war. Die Schmids und Smiths konsumierten die Massenprodukte nun also en famille oder gar allein; je einsamer sie waren, um so ausgiebiger: der Typ des Massen-Eremiten war entstanden; und in Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem anderen gleich, einsiedlerisch im Gehäuse – nur eben nicht um der Welt zu entsagen, sondern um um Gottes willen keinen Brocken Welt in effigie zu versäumen.
Massenregie im Stile Hitlers erübrigt sich: Will man den Menschen zu einem Niemand machen (sogar stolz darauf ein Niemand zu sein), dann braucht man ihn nicht mehr in Massenfluten zu ertränken; nicht mehr in einen, aus Masse massiv hergestellten, Bau einzubetonieren. Keine Entprägung, keine Entmachtung des Menschen als Menschen ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt. Findet die Prozedur des „conditioning“ bei jedermann gesondert statt: im Gehäuse des Einzelnen, in der Einsamkeit, in den Millionen Einsamkeiten, dann gelingt sie noch einmal so gut. Da die Behandlung sich als „fun“ gibt; da sie dem Opfer nicht verrät, dass sie ihm Opfer abfordert; da sie ihm den Wahn seiner Privatheit, mindestens seines Privatraums, belässt, bleibt sie vollkommen diskret. Wahrhaftig, das alte Wort, dass „eigner Herd Goldes wert“ sei, ist von neuem wahr geworden; wenn auch in einem völlig neuem Sinn. Denn Goldes wert ist nun nicht für den Eigentümer, der die conditioning Suppe auslöffelt; sondern für die Eigentümer der Herdeigentümer: die Köche und Lieferanten, die die Suppe den Essern als Hausmannskost vorsetzen.
Über die Tatsache, dass die Mehrzahl der Menschen in heutigen Massengesellschaften durch die Belieferung mit Massenerzeugnissen und durch den Druck der Massenmedien geprägt werden, gibt es keine Meinungsverschiedenheit. Diese Tatsache wird nicht etwas nur behauptet, sondern vor allem praktiziert: und zwar von den Lieferanten selbst, die, um in der Lage zu sein, die Übertölpelbarkeit und Modellierbarkeit des Menschen ausnutzen, also den „schlechten Kunden“ Mensch in einen guten Kunden zu verwandeln, Research - Unternehmungen aufs üppigste dotieren, und die Übertölpelbarkeit des Menschen aufs systematischste studieren lassen. Der Gedanke, dass der Herstellungsvorgang mit dem, was man gewöhnlich als den Produktionsprozess bezeichnet: also mit der Herstellung der dinglichen Produkte, sein Ende finde, ist kindlich.
Es ist zunächst plausibel, dass, wenn Entscheidungen als „gewünschte Entscheidungen“ geboten werden sollen, die Deutungen der getroffenen Entscheidungen genau so fertig geliefert werden müssen wie diese Entscheidungen selbst; dass zur Entscheidung also als integrierender Bestandteil gehört, wie diese gedeutet werden soll; dass auch die Deutung vor-entschieden und unmittelbar mit der Entscheidung mitgeliefert wird. Das bedeutet aber – und damit formulieren wir eine für die konformistische Situation wesentliche Neutralisierung: Einen Unterschied zwischen Fakten und deren Interpretation darf es nicht geben. Dieser Unterschied muss verwischt bzw. unterschlagen werden. Dieses Prinzip wird tatsächlich strikt durchgeführt. Niemals werden Interpretationen als Interpretationen präsentiert, niemals als Ansichten, sondern stets als Fakten.
Und wenn die gelieferte Meinung eo ipso assimiliert, eo ipso als eigene Meinung aufgefasst wird, dann gibt es natürlich auch keine andere, die geäußert werden könnte. Annulliert ist also außerdem der Unterschied zwischen Hören und Sprechen. Was erzielt werden soll, ist „höriges Reden“. Die Definition des Menschen als zoon logon echon wird nun entwertet. Denn ein Sprachwesen ist der Mensch nun nur noch deshalb, weil er ein Wesen ist, das hört.
- Günther Anders
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