Samstag, 9. Januar 2010
Wahre Wohltäter der Menschheit
Mag das Problem der Freiheit auch unlösbar sein, wir können immerhin viel Redens davon machen und dabei entweder der Zufälligkeit oder der Notwendigkeit das Wort reden... Gemütsart und Vorurteile helfen uns, eine Entscheidung zu fällen, die das Problem vereinfacht, ohne es zu lösen. Keine wie immer geartete Spekulation ist imstande, es uns greifbarer zu machen und uns die Fülle und Widersprüchlichkeit seiner Realität erkennen zu lassen; eine besondere Intuition versetzt uns jedoch mitten ins Herz der Freiheit, allen sie ersonnenen Argumenten zum Trotz. Und wir haben Angst; - wir fürchten uns vor Unermesslichkeit des Möglichen, denn wir sind nicht gerüstet für eine so weittragende und so jähe Offenbarung, für dies gefährliche Gut, nach dem wir trachteten und vor dem wir nun zurückweichen. Wir, die wir an Ketten und Gesetze gewöhnt sind, was sollen wir nun beginnen angesichts dieser Unzahl von Initiativen und dieser Überfülle an Entscheidungen ? Das Verlockende der Willkür erschreckt uns. Können wir zu jeder beliebigen Tat schreiten und sind Eingebung und Laune keinerlei Grenzen mehr gesetzt, wie sollen wir da unseren Untergang im Rausch einer solchen Machtfülle vermeiden können ?
Erschüttert von dieser Offenbarung, fährt das Gewissen auf und beginnt sich selbst zu befragen. Wen hat nicht Schwindel befallen, wenn er in einer Welt stand, in der er nach Belieben schalten und walten durfte ? Der Mörder macht unbeschränkten Gebrauch von seiner Freiheit und vermag dem Bewusstsein seiner Macht nicht zu widerstehen. Es liegt in eines jeden Macht, einem Mitlebenden das Leben zu nehmen. Verschwänden alle jene, die wir in Gedanken umgebracht haben, auch in der Tat – die Erde hätte keine Bewohner mehr. In unserem Innern wohnt ein unschlüssiger Henker, ein nicht realisierter Verbrecher. Jedermann schleppt einen Friedhof voller Freunde und Feinde hinter sich her; und es hat weiter nichts zu bedeuten, ob dieser Friedhof in die Abgründe des Herzens verlegt oder an die Oberfläche der Begierden emporgerückt wird.
Allein nur manchmal, in jähem Aufschrecken, fühlen wir uns frei, erfassen wir Chance oder Gefahr. Und das Intermittierende, die Seltenheit dieser Zustände erklärt, warum diese Welt nichts weiter ist als ein mediokrer Schlachthof und ein fiktives Paradies. Über die Freiheit zu dissertieren bleibt ohne jede Konsequenz, weder zum Guten noch zum Bösen hin; und wir verfügen nur über kurze Augenblicke, um zu erkennen, dass alles von uns abhängt.
Ideen als solche sind neutral – oder sollten es zumindestens sein. Aber der Mensch haucht ihnen seinen Atem ein, entfacht sie mit seiner Glut und seinem Wahn; unrein, In Glaubenssätze verwandelt, schalten sie sich nun in die Zeit ein, werden Ereignis: der Schritt von der Logik zur Epilepsie ist getan... Es entstehen Ideologien, Doktrinen, blutiges Possenspiel.
Götzendiener aus Instinkt, münzen wir Erträumtes und Ersehntes in Unbedingtheiten um. Die Geschichte ist nur ein Nacheinander falscher Verabsolutierungen, eine lange Reihe von Tempeln, die Scheinbarem zu Ehren errichtet wurden, sie ist das Sicherniedrigen des Geistes vor dem Unwahrscheinlichen. Selbst wenn er von ihr abrückt, bleibt der Mensch im Banne der Religion, reibt er seine Kräfte auf im Ersinnen von Trugbildern, die er fieberhaft zu Götten erhebt: sein Fiktions- und Mythenhunger trägt dem Sieg über das Augenfällige und die Lächerlichkeit seines Tuns davon. Dass er der Anbetung fähig ist, trägt die Schuld an sämtlichen Verbrechen, die er begehrt: wer einen Gott über Gebühr liebt, zwingt auch die anderen zu dieser Liebe, ist entschlossen sie auszurotten, falls sie sich weigern sollten. Der Mensch gehe seiner Fähigkeit, gleichgültig zu sein, verlustig: virtuell ist er bereits ein Mörder. Er vergotte seine Idee: die Folgen davon sind unabsehbar. Nur im Namen eines Gottes oder einer seiner Nachbildungen wird getötet: Exzesse im Namen einer Nation, Rasse oder Klasse sind nah verwandt mit denen der Inquisitions- und Reformationszeit. Wir sind ungerecht gegen einen Nero oder Tiberius: sie haben nicht den Begriff der Ketzerei geprägt; sie waren nur entartete Träumer, die sich durch den Anblick von Massakern zu zerstreuen suchten. Die wahren Verbrecher sind diejenigen, die eine religiöse oder politische Orthodoxie stiften, diejenigen, die zwischen Rechtgläubigen und Schismatikern unterscheiden. Wird die Auswechselbarkeit der Ideen untereinander bestritten, so beginnt Blut zu fließen.
So entsteht der Fanatismus, jener Kapitalfehler, der den Menschen Geschmack finden lässt an Tatkraft, Prophetentum und Terror; so bildet sich jener Begeisterungsaussatz, mit dem der Mensch die Seelen verseucht, sie unterwirft, aufreibt und verzückt... Nur die Skeptiker, die Müßiggänger und die Ästheten entgehen ihm, weil sie nichts anbieten, weil sie wahre Wohltäter der Menschheit – die vorgefassten Meinungen der Fanatiker zerstören, weil sie deren Wahn analysieren.
Man hegt Misstrauen gegen den Schlaukopf, den Spitzbuben, den Possenreißer und dennoch kann ihnen keine einzige der großen Konvulsionen der Geschichte zur Last gelegt werden. Sie glauben an nichts und stöbern daher nicht in unseren Herzen, wühlen nicht in unseren verborgensten Gedanken; sie überlassen uns unserer Nachlässigkeit, unserer Verzweiflungen, unserem nutzlosen Sein, immer wieder waren sie die Retter der von Fanatikern gequälten und von Idealisten zugrunde gerichteten Völker.
- Emile Cioran
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