Mittwoch, 15. September 2010

MOBILISIERUNGSSCHÜBE IN DER POSTMODERNEN GESELLSCHAFT

„Postmoderne" ist kein theoretischer Begriff, der durchkomponiert
oder definiert wäre. Durch ihn lassen sich Leitmotive aufnehmen wie
Pluralismus, vielfältige Optionen und Polyvalenzen. Die damit einhergehenden
Gesellschaftsthemen bzw. individuellen Handlungsmuster beziehen
sich z.B. auf Lebensstil, Familie, Beziehungskiste, Arbeitswelt,
Öffentlichkeit oder auch Politik.
„Postmoderne" ist hier gleichberechtigt mit Verhältnissen zu sehen,
die gelegentlich auch „postindustriell" genannt werden. Welcher Bereich
auch einer Reflexion unterzogen wird, es geht um collageartige Bilder,
Zusammengesetztes, Flüssiges, Zeitgeistbezogenes. Daß es hierbei freilich
nicht um Unverbindliches geht, daß theoretische Anstrengung gefragt
ist, werde ich im folgenden zu zeigen versuchen.
Schon seit den 70er Jahren waren die sog. „kulturellen Freisetzungsprozesse"
beobachtet und in ihren Konsequenzen für die betroffenen
Menschen untersucht worden (vgl. Ziehe 1975). Linke als auch rechte
Gruppierungen konstatierten eine „Unregierbarkeit des Staates" oder
„die Zerrüttung von Grundwerten" gelegentlich auch den „Zerfall der
Familie" (Ziehe 1981, S. 362). Die Rede war weiters von „der Abnahme
traditioneller Arbeitsethik" (ebd., S. 364), die in enger Verknüpfung der
„Freisetzungsprozesse aus Traditionen des Sexuallebens, der Ehegestaltung,
der Familienformen" (ebd.) vermutet wurde.
In einem ersten Schritt bezüglich meiner eigenen Überlegungen geht
es darum, drei Kultursektoren phänomenologisch zu beschreiben, die
bereits in den letzten Jahrzehnten in Bewegung waren, in jüngster Zeit
aber raschen, erdrutschähnlichen Mobilisierungsschüben unterliegen:
(1) - die Familie oder die Organisation der menschlichen Nahebeziehungen,
(2) - die Arbeit bzw. die damit zusammenhängenden Marktmechanismen,
(3) - Parole „Selbstverwirklichung" oder die Durchsetzung des psychologistischen
Denkens.
Die Vorstellung ist allerdings von der Hand zu weisen, daß die drei
nachfolgend skizzierten Zustandsbilder bzw. Bewegungstendenzen auf
einmal und streng akkordiert entstanden wären. Es geht bei den von mir
aufgezeigten Phänomenen keineswegs um die Behauptung des Auftretens
einer Gleichzeitigkeit sondern um zeitlich versetzte Schübe, die zunächst
gar nicht verbunden zu sein scheinen. Trotzdem gibt es mehr oder
weniger sichtbare Zusammenhangsbedingungen, die nicht auf den ersten
Blick zu erkennen sind. Bewegungskraft Nr. 1 ist dabei zuvorderst die
ökonomische Verfaßtheit unserer Gesellschaft, wo kapitalistisches Wirtschaften,
Profitdenken und technokratische Rationalität alles andere subsumiert
und in seinen Bann zieht.
Mobilisierungsschub (1): die Familie
Die bis ins 18. Jahrhundert vorherrschende Familienform läßt sich definieren
als Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft. Zum Haushalt des
„Ganzen Hauses" zählen alle, die unter einem gemeinsamen Dach leben
und durch ihre Arbeit zur gemeinsamen Existenzsicherung beitragen.
Die Ehe wird als eine notwendige Zweckgemeinschaft angesehen. Innerhalb
dieses Familiensystems gibt es, zumindest auf dem Lande, eine
festgelegte Rollenverteilung. Die Grundhaltung gegenüber Kindern
drückt sich in einer Art Gleichgültigkeit aus. „Die Familie war die Produktionseinheit,
in der die Arbeit organisiert wurde. Alle Familienmitglieder,
Männer und Frauen, arbeiten hart, nicht selten am
Existenzminimum, von früher Kindheit an bis zum Tod, oder bis Krankheit
und Gebrechlichkeit die Arbeitsfähigkeit zunichte machten" (Schenk
1992, 5.12 f.).
Eine gewisse Zäsur läßt sich zwischen Mittelalter und neuzeitlicher
Epoche erkennen. Die Neuzeit war - zeitweise beschleunigt, zeitweise
gebremst - dadurch gekennzeichnet, daß durch Technik und Maschinen
die menschliche Arbeit zunehmend erleichtert wurde. Allerdings muß
daran erinnert werden: Die generelle „Langsamkeit" zu Beginn des technischen
Zeitalters ist uns heute kaum mehr vorstellbar. Noch muß in
Jahrhunderten gedacht werden.
Im historischen Rückblick wird erkennbar: Die Entwicklung der industriellen
Organisation erforderte in unserer Kultur zunehmend neue
Formen der Arbeitsteilung. Familie und Beruf zerfielen dementsprechend
in getrennte Bereiche. Mit dem Aufbrechen des „Ganzen Hauses",
dem Auseinanderfallen von Produktions- und Reproduktionsbereich,
entstand eine Neuverteilung der Rollen zwischen Mann und Frau. Durch
die außerhäusliche Erwerbstätigkeit des Mannes - der Zuständigkeit für
Außenwelt, Beruf, Öffentlichkeit - wurden die Aufgaben der Frau mehr
auf das „Dasein für andere" in der Familie eingeschränkt. Ihre Aufgaben
waren Heim, Haushalt und Familie. Nur in Resten und gesellschaftlich
entwertet, gilt das auch heute noch (vgl. dazu Beck-Gernsheim 1989, S.
20).
Noch gibt es die Familie in ihrer bürgerlichen Form. Man muß nur
lange genug danach suchen. Aber: Erstens ist sie ein Auslaufmodell.
Zweitens nimmt ihr kultureller Stellenwert als psychische Kraftquelle für
den einzelnen ab. In ihrer Substanz wird sie kontinuierlich geschwächt
und aufgeweicht. Die Paarbildung gewinnt als sogenannte Beziehungskiste
an Boden. Alleinerziehende Mütter, Restfamilien, Lebensabschnittspartnerschaften
ziehen die Aufmerksamkeit als Lebensform auf
sich und erkämpfen sich zunehmend gesellschaftliche Anerkennung. -
Freilich ist diese Entwicklung nicht zufällig oder willkürlich, sondern
entspricht genau jener Organisation von Arbeit, Rationalisierung und
Renditedenken, die in unserer Kultur vorherrscht und inzwischen alle
Lebensbereiche erfaßt hat.
Mit anderen Worten: Bis in die 50er Jahre galt die Institution der Familie
als etwas Gewachsenes, Geronnenes, das wenig in Frage gestellt
wurde. Die postindustriellen Verhältnisse scheinen die Familie tendenziell
abkömmlich zu machen, neue Beziehungsformen unter den Menschen
zu begünstigen - ganz entsprechend unserer momentanen
ökonomischen Entwicklung, wo permanente Aufkündbarkeit und nutzenorientiertes
Kalkül die Oberhand gewonnen haben (vgl. dazu Lasch
1995, S. 109).
Mobilisierungsschub (2): die Arbeit
Noch gelten die Lebens- und Sinnperspektiven einer Vätergeneration,
die noch gänzlich nach Leistungsprinzip und im Denken einer Verwirklichung
des Lebens durch Arbeit erzogen worden ist, die jedoch eingeholt
wird von einer Welt, in der das Angebot an Arbeit bzw.
Arbeitsplätzen immer geringer wird. Dabei war man sich über die tendenzielle
Freisetzung der menschlichen Arbeitskraft in der industriellen
Produktion bereits vor drei Jahrzehnten durchaus im klaren (vgl. dazu
Lauschke 1968, S. 2).
Eine intensive Beschäftigung von seiten der Wissenschaft mit dem
Phänomen Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit setzte freilich erst mit den 80er
Jahren ein, als die politischen Parolen vom stetig wachsenden Wohlstand
bei gleichzeitig damit einhergehender Vollbeschäftigung nur noch mit
zunehmenden Schwierigkeiten einzulösen, also nicht mehr durchzuhalten
waren (vgl. Matthes 1983, Kieselbach/Wacker 1985, Fürstenberg
1987). - Während 1980 die Arbeitslosenquote in der BRD nur mäßige
3,8 % betrug, war sie 1990 stets wachsend auf 7,2% (bezogen auf die
Westländer) angestiegen (vgl. Aktuell „92, S. 37). Zu Beginn des Jahres
1996 gibt es in der BRD über vier Millionen, in Österreich 300.000 Arbeitslose
- Tendenz steigend.
Die psychosozialen Konsequenzen dieses gesellschaftlichen Zustandes
finden wir bei Eisenberg beschrieben. Danach „ist es bisher nicht gelungen,
der „Krise der Arbeitsgesellschaft" Herr zu werden, die vielmehr
nach verschiedenen Seiten weiter verliert. Objektiv erleidet sie Einbußen
an gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit, da ein wachsender Teil der
Bevölkerung sich über Lohnarbeit nicht mehr zu reproduzieren vermag
(...) subjektiv verliert sie an identitätsbildender Kraft, da Sozialisation
immer mehr in den Sog konsumistischer Imperative gerät (...). Da die
rapide gestiegene Arbeitsproduktivität den Bedarf an lebendiger Arbeit
ständig sinken läßt, Investitionen Arbeitsplätze eher vernichten als neue
schaffen, können immer größere Teile der Bevölkerung nicht mehr über
die Lohnarbeit gesellschaftlich integriert werden„ (1990, S. 111).
Noch glauben viele Menschen, durch Fleiß und Wohlverhalten ihre
beruflliche Position sichern und ausbauen zu können. Aber dem kann
entgegengehalten werden, daß offensichtlich die individuelle Initiative
immer weniger zu Buche schlägt. Zufall, rigoroses Konkurrenzverhalten
und persönliche Beziehungen setzen berufliche Qualifikation im Gerangel
um einen Arbeitsplatz mehr und mehr außer Kraft.
Aber wo finden die Menschen noch Abstützung, wenn die Familie als
Kraftquelle zunehmend nicht mehr in Frage kommt? Daß hier einschlägiger
Bedarf vorliegt, zeigt das Aufkommen von Lebensberatungsstellen,
sozialpädagogischen Einrichtungen, Psychotherapieangeboten. Allerdings
wird in diesen Institutionen eher eine Stabilisierung des Status quo
betrieben, als daß sie den Menschen Perspektiven aufzeigten, Widerstand
zu leisten gegen Interessen, die sich gegen sie richten.
Mobilisierungsschub (3): Parole „Selbstverwirklichung"
Das Ende unseres Jahrhunderts steht unter dem Zeichen der Selbstverwirklichung.
Praktisch heißt das: Immer mehr Menschen konzentrieren
sich auf die eigene Individualität, heben ihre Egozentrik als
Hauptthema ihres Lebens hervor. Doch dieses Recht auf das eigene Ich
läßt sich oft nicht so ohne weiteres einfordern. Viele nehmen Anleitung
von außen in Anspruch - etwa einzel- oder auch gruppentherapeutische
Hilfe, um ihrer Selbstverwirklichung möglichst nahezukommen. Allerdings
hat die Medaille „Psychotherapie" zwei Seiten: Einerseits kann sie
helfen, im Sinne einer heilenden Wirkung. Das ist unbestritten. Andererseits
wird „Psychotherapie" als Ware mit einem breit gefächerten Anwendungsspektrum
auf dem Psychomarkt angeboten (vgl. Schülein 1978). Und dieser Sektor
ist als beinahe industriell organisierte Wachstumsbranche inzwischen
zunehmend ins Gerede gekommen.
Demnach kann Selbstverwirklichung auch zu einem erlern- und kaufbaren
Gut werden. Und kaum mehr wird darüber nachgedacht, „unter welchen
gesellschaftlichen Bedingungen so etwas wie eine stabile Identität
überhaupt möglich ist (...) Ohne daß noch lange gefackelt wird, wird das,
was jeder so unter „Selbstverwirklichung versteht, antrainiert - verstanden
als irgendeine Weise der Verhaltensänderung, die dem Konsumenten des
Trainings Selbstbehauptung im Alltag erleichtert. Die Ideologie jedoch,
durch ein gut bestücktes Arsenal für die Selbstbehauptung auch etwas für
eine „Selbstverwirklichung" getan zu haben, macht blind für die Erkenntnis,
daß Verhalten, menschliches Verhalten, gesellschaftlichen Verhältnissen
entspricht" (Krefting 1979, S. 87). Wie die Werbewirtschaft versucht,
konzernbezogenes Image und Rendite zu mehren, trägt in bezug auf den
einzelnen die Psychotherapie zur Verbreitung und Aufrechterhalten des
modernen Egoismus bei. Die Psychotherapie degradiert sich nach dieser
Kritik zu einer Art Schnellservice für Psychodefekte, wobei zugesichert
wird, die psychischen Vakanzen beim verunsicherten Menschen auffüllen
zu wollen und zu können.
Gesellschaftliche Widersprüche, deren pathogene Wirkung auf die
menschliche Psyche ausgeblendet bleibt, werden ins Subjekt hineinverlegt.
Und es soll Aufgabe der betroffenen Menschen sein, die von der Gesellschaft
verursachten Probleme, die als individualpsychologische Defizite
beim einzelnen entdeckt werden, bei sich zu bereinigen. In Wirklichkeit
bestärken die erwähnten Trainingsprogramme, wo sog. „Selbstverwirklichung"
im therapeutischen Kostüm angeboten wird, lediglich die vorhandenen
gesellschaftlichen Strukturen und fördern Egoismus und
galoppierende Ich-Bezogenheit.
Der auftrumpfende Individualismus, der Slogan „Ich bin ich" scheint in
unserer Gesellschaft zum alles dominierenden Wert geworden zu sein. Die
Selbstverwirklichung steht in der Werteordnung des Menschen mit an vorderster
Stelle. Die Leute tun alles, ihre Fitneß und ihr persönliches Wachstum
zu fördern. Das ist an sich nichts Negatives, aber sehr viele kümmern
sich mit einer derartigen Hingabe um sich selbst, daß für einen Partner und für die Entwicklung einer Beziehung oft keine Zeit und kein
Interesse vorhanden ist. „Jeder erwartet in seinem Streben nach Selbstverwirklichung
Unterstützung vom anderen, aber keiner ist bereit, Unterstützung
zu geben" (Nuber 1993, S.82).
Selbstverwirklichungsbestrebungen stehen seit langem im Zentrum der
geistigen und psychischen Entwicklung unserer westlichen Kultur. Die einen
sehen darin die Grundlagen für den Übergang in ein neues Zeitalter,
meinen, ein wesentliches Kennzeichen der Postmoderne zu erkennen, die
anderen deuten die damit einhergehenden Phänomene lediglich als eine
pseudowissenschaftliche Bemäntelung von Egoismus. Denn Selbstverwirklichung
auf Kosten der Mitmenschen scheint wohl wenig positiv zu sein.
Resümee (1)
Im Gegensatz zur bürgerlichen Epoche mit fester Familienstruktur, klaren
Rollendefinitionen, die das ganze Leben lang galten, scheint es heute
eher unsicher zu sein, ans Ziel seiner Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen
zu kommen, die oft - ganz im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
- tendenziell die alten geblieben sind.
Das haltende Umfeld - ob als Vernetzung der Familie oder als partnerschaftliche
Solidarität - schrumpft. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
verflüssigen sich, werden nomadisch und gewähren nur noch
ausnahmsweise langfristige Befriedigung. Daraus läßt sich ableiten, daß die
Familie als Agentur, die die nachwachsende Generation mit einer stabilen
Identität versorgt, zurücktritt (vgl. Der Spiegel 1996b).
Die Arbeitswelt mit ihrer einst klassischen Funktion, Identität zu stiften,
befindet sich in einem Strukturwandel. Arbeitsplätze werden rar bzw. instabil.
Eine Situation, die es immer seltener zuläßt, daß Arbeit noch mit
Berufung oder freier Wahl des Arbeitsplatzes zu tun hat.
Noch in den 60er Jahren konnte davon ausgegangen werden, „daß Familie
und Beruf die zwei großen Sicherheiten sind, die den Menschen in der
Moderne geblieben sind" (Beck 1986, 5221). Diese Sicherheiten brechen
als psychische Stützen des Menschen inzwischen weg - wo nicht, kann das
beinahe schon als außergewöhnliches Privileg bezeichnet werden.
Psychische Anpassungsfähigkeit, die sich auf Tagesgeschäfte und Äußerlichkeiten
konzentriert, berufliche Flexibilität - d.h. rasches Reagieren
auf Marktchancen - lassen sich als jene neueren Charaktermerkmale
kennzeichnen, die den postindustriellen Menschen am Laufen halten und
die heute eine Voraussetzung dafür sind, den eigenen Lebensplan entsprechend
den wechselnden, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
immer wieder umzuschreiben bzw. zu modifizieren.
Die Konsequenzen für den Menschen der Postmoderne werden demnach
heute bereits sichtbar. Auf gesellschaftliche Anforderungen und
bezüglich der zwischenmenschlichen Kommunikation bilden sich Reaktionsformen
heraus, die nicht an eine übergeordnete Moral gebunden,
sondern je nach Interessenslage variierbar sind. Die Solidarität nimmt
gegenüber den Mitgliedern der eigenen Bezugsgruppe ab, aber auch gegenüber
Minderheiten. Wenn wir überhaupt noch von Identität reden
wollen, so ist es für den einzelnen anstrengend, die eigene Identitätsbalance
herzustellen, zu erhalten und künftighin zu sichern. Und für diese
Sicherung muß immer mehr Energie verwendet werden, die also von jenem
Bereich abgezogen werden muß, wo man sich früher dem Nächsten,
dem Fremden, dem Verfolgten, dem Hilfbedürftigen zugewandt hat. Die
Beschäftigung mit sich selbst nimmt somit ganz unausweichlich zu, die
Auseinandersetzung mit dem anderen, die Bereitschaft zum Engagement
- z.B. sich mit Problemen von Minoritäten abzugeben - schrumpft, wird
künftighin weniger werden.
Resümee (2)
Der Warencharakter von Psychotherapie tritt unter den Bedingungen
einer Welt, wo der Mensch zunehmend einer bürokratischen Verwaltung
und dem Renditedenken unterworfen wird, immer deutlicher hervor. Das
ist die eine Seite. Andererseits hat der Psychomarkt neben den bereits
oben beschriebenen Tendenzen - Egotrip bzw. Rückzug ins Privatistische
- auch eine kulturbeschwichtigende Funktion, die ihm, mehr ungeplant
als gewollt, zugefallen ist. Da die Familie bzw. die Arbeitswelt
wegen ihrer galoppierenden Auszehrung kaum mehr in der Lage sind,
identitätsbildend oder -stabiliserend zu wirken, mußten in der Gesellschaft
neue, vorwiegend halbinstitutionelle Einrichtungen hervorgebracht
werden, die diese Aufgabe - entsprechend den geänderten
kulturellen Rahmenbedingungen – weiterführten. Es entstand seit den 60er Jahren ein neuer, wie gesagt
„halbinstitutioneller" Bereich, genannt Lebensberatung, Partnerschaftstraining,
Krisenintervention. Was die alten Primärinstitutionen - als Familie,
Kirche, Schule - nicht mehr zu leisten vermögen, wird nun unter
psychologistische Verwaltung genommen.
Wie schon erwähnt, ist die Bedeutung der Familie zurückgegangen.
Das heißt, wenn eine Familie in Turbulenzen gerät, ist sie heute in aller
Regel weder psychisch noch finanziell in der Lage, diese Probleme in
eigener Regie zu lösen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise
auch die Durchsetzungskraft der Agenturen mit religiöser Fundierung
rückläufig, weil die scheint's auch nicht mehr in der Lage sind, Menschen
effektiv zu helfen; sie sind eher bürokratische Apparate geworden,
die sehr intensiv mit ihren Verwaltungsproblemen beschäftigt sind, aber
immer weniger mit der Befindlichkeit des Menschen sich einlassen. Daraus
läßt sich ableiten, daß wir Beratungsstellen nötig haben, daß wir der
Psychotherapeuten bedürfen, die also den Menschen mehr oder weniger
wieder an jene Verhältnisse anpassen, in denen er funktionieren muß.
Das sei jetzt mal ganz unkritisch vermerkt.
Folgendes bleibt festzuhalten: Wenn die Agenturen - wie z.B. Familie,
Religion oder Schule, die in der bürgerlichen Gesellschaft die Alltagsprobleme
des Menschen - mehr oder minder repressiv - gelöst haben,
wenn die in ihrer sozialisierenden Wirkung zurückgehen, muß ein entsprechender
Einfluß von nun neu aufkommenden Institutionen zunehmen.
Und es sind somit Psychotherapie oder der sog. Psychomarkt
heutzutage die neuen, psychosozialen Vermittlungsagenturen, die an die
vakant gewordenen Stellen gerückt sind - ob wir das wollen oder nicht.
Und um das hier mal positiv zum Ausdruck zu bringen: Da wird auch
identitätsstiftend gearbeitet. Zumindest fällt diesen historisch jungen
Agenturen auf dem Psychomarkt die Aufgabe zu, identitätsbeschwichtigend
und identitätsaufbauend zu wirken. Allemal geht es ja darum, die
postmoderne Patchworkidentität zusammenzustücken, an Identitätscollagen
zu werken, fragmentierte Identitäten wieder zu kitten. Denn durchgängige
Identitätsentwürfe sind heute weder gefragt, noch im Ernst
überhaupt herstellbar.


- EWALD H. ENGLERT

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