Freitag, 1. Oktober 2010

Die fragwürdige Verfassung des musikalischen Hörens

Die Schwierigkeit, wissenschaftlich des subjektiven Gehalts musikalischer Erfahrung, über die äußerlichsten Indices hinaus zu versichern, ist nahezu prohibitiv. Das Experiment mag Intensitätsgrade der Reaktion, kaum deren Qualität erreichen. Die buchstäblichen etwa physiologischen und messbaren Wirkungen, die eine Musik ausübt – man hat sich da sogar mit Beschleunigung des Pulsschlags abgegeben, sind keineswegs identisch mit der ästehtischen Erfahrung eines Kunstwerks als Kunstwerk. Musikalische Introspektion ist überaus ungewiß. Vollends die Verbalisierung des musikalisch Erlebten stößt bei den meisten Menschen auf unüberwindliche Hindernisse, soweit sie nicht über die technische Terminologie verfügen; überdies ist der verbale Ausdruck schon vorfiltriert und sein Erkenntniswert für die primären Reaktionen doppelt fraglich. Darum scheint die Differenzierung der musikalischen Erfahrung mit Rücksicht auf die spezifische Beschaffenheit des Gegenstands, an der das Verhalten ablesbar wird, die fruchtbarste Methode, um in jenem Sektor der Musiksoziologie, der die Menschen und nicht die Musik an sich behandelt, über Trivialitäten hinauszugelangen. Die Frage nach den Kriterien der Erkenntnis des Experten, dem man leicht dafür die Kompetenz dafür zuschiebt, unterliegt selbst der gesellschaftlichen wie der innermusikalischen Problematik. Die communis opinio eines Sachverständigengremiums wäre keine zureichende Basis. Die Deutung des musikalischen Gehalts entscheidet sich in der inneren Zusammensetzung der Werke und in eins damit kraft der Theorie, welche mit deren Erfahrung sich verbindet.
Der Experte selbst wäre, als erster Typus durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewusste Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. Während er dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das Aufeinanderfolgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, dass ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert. Auch Verwicklungen des Gleichzeitigen, also komplexe Harmonik und Vielstimmigkeit, fasst er distinkt auf. Die voll adäquate Verhaltensweise wäre als strukturelles Hören zu bezeichnen. Sein Horizont ist die konkrete musikalische Logik: man versteht, was man in seiner freilich nie buchstäblich-kausalen Notwendigkeit wahrnimmt. Ort dieser Logik ist die Technik; dem, dessen Ohr mitdenkt, sind die einzelnen Elemente des Gehörten meist sogleich als technische gegenwärtig und in technischen Kategorien enthüllt sich wesentlich der Sinnzusammenhang. Dieser Typus dürfte heute einigermaßen auf den Kreis der Berufsmusiker beschränkt sein, ohne dass alle diese seine Kriterien erfüllten; viele Reproduzierende werden ihnen eher sich widersetzen. Quantitativ kommt dieser Typ wahrscheinlich kaum in Betracht; er markiert den Grenzwert einer Reihe der von im sich entfernenden Typen. Vorsicht ist geboten, das Privileg der Professionellen auf diesen Typus nicht eilfertig aus dem gesellschaftlichen Entfremdungsprozess zwischen dem objektiven Geist und den Individuen in der bürgerlichen Spätphase zu erklären und damit den Typus selber zu diskreditieren. Seit Äußerungen von Musikern überliefert sind, billigen sie das volle Verständnis ihrer Arbeiten meistens nur ihresgleichen zu. Die zunehmende Kompliziertheit der Kompositionen wird jedoch wohl den Kreis der voll Zuständigen, jedenfalls relativ auf die wachsende Zahl der überhaupt Musik Hörenden, verkleinert haben. Wer allerdings aus alle Hörern Experten machen wollte, verhielte unter den obwahltenden gesellschaftlichen Bedingungen sich inhuman utopisch.
Der Zwang, den die integrale Gestalt des Werks auf den Hörer ausübt, ist unvereinbar nicht nur mit seiner Beschaffenheit, seiner Situation und dem Stand nichtprofessioneller musikalischer Bildung sondern auch mit individueller Freiheit. Das legitimiert, gegenüber dem Typus des Experten-Hörers, den des guten Zuhörers. Auch er hört über musikalisch Einzelne hinaus; vollzieht spontan Zusammenhänge, urteilt begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür. Aber er ist der technischen und strukturellen Implikationen nicht oder nicht voll sich bewusst. Er versteht Musik etwa so, wie man die eigene Sprache versteht, auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder wenig weiß, unbewusst der immanenten musikalischen Logik mächtig. Dieser Typ wird gemeint von der Rede von einem musikalischen Menschen, wofern man dabei überhaupt noch an die Fähigkeit zu unmittelbarem, sinnvollem Mithören sich erinnert und nicht damit sich begnügt, dass einer Musik „möge“. Solche Musikalität bedurfte historisch einer gewissen Homogenität der musikalischen Kultur; darüber hinaus einiger Geschlossenheit des Gesamtzustandes, wenigstens der auf die Kunstwerke reagierenden Gruppen. Etwas dieser Art wird bis ins 19. Jahrhundert hinein in höfischen und aristokratischen Zirkeln überlebt haben. Zu mutmaßen wäre, dass der gute Hörer, wiederum proportional zur anwachsenden Zahl der Musikhörer überhaupt, mit der unaufhaltsamen Verbürgerlichung der Gesellschaft, dem Sieg des Tausch- und Leistungsprinzips immer seltener wird und zu verschwinden droht. Eine Polarisierung nach den Extremen der Typologie hin kündigt sich an: tendenziell versteht heute einer entweder alles oder nichts. Im Bürgertum dürfte der Typus schon kaum mehr sich finden, außer bei polemischen Einzelgängern, die bereits zu den Experten hinüberspielen.
Soziologisch hat das Erbe dieses Typus ein dritter, der eigentlich bürgerliche angetreten, maßgebend unter den Opern- und Konzertbesuchern. Man mag ihn den Bildungshörer oder Bildungskonsumenten nennen. Er hört viel, unter Umständen unersättlich, ist gut informiert, sammelt Schallplatten. Musik respektiert er als Kulturgut, vielfach als etwas, was man um der eigenen sozialen Geltung willen kennen muss; diese Attitüde reicht vom Gefühl ernsthafter Verpflichtung bis zum vulgären Snobismus. Das spontane und unmittelbare Verhältnis zur Musik, die Fähigkeit des strukturellen Mitvollzugs, wird substituiert dadurch, dass man soviel wie nur möglich an Kenntnissen über Musik, zumal über Biographisches und über die Meriten von Interpreten anhortet, über die man stundenlang nichtig sich unterhält. Dieser Typus verfügt nicht selten über ausgebreitete Kenntnis der Literatur, aber derart, dass man die Themen berühmter und immer wiederholter Musikwerke summt, das Vernommene sogleich identifiziert. Die Entfaltung einer Komposition ist gleichgültig, die Hörstruktur atomistisch: der Typus lauert auf bestimmte Momente, vermeintlich schöne Melodien, grandiose Augenblicke. Sein Verhältnis zur Musik hat insgesamt etwas Fetischistisches. Er konsumiert nach dem Maßstab der öffentlichen Geltung des Konsumierten. Die Freude am Verzehr, an dem, was nach seiner Sprache die Musik ihm gibt, überwiegt die an ihr selbst als einem Kunstwerk, das von ihm fordert. Er ist der Mann der Würdigung. Das einzige, worauf dieser Typus primär anspricht, ist die exorbitante, sozusagen messbare Leistung, also etwa halsbrecherische Virtuosität, ganz im Sinn des show-Ideals. Ihm imponiert Technik, das Mittel, als Selbstzweck; insofern ist er gar nicht so weit vom heute verbreiteten Massenhören. Allerdings gebärdet er sich massenfeindlich und elitär. Sein Milieu ist das obere und gehobene Bürgertum, mit Überhängen zum Kleinen; seine Ideologie meist wohl reaktionär kulturkonservativ. Stets fast ist er de exponierten neuen Musik feindlich; man bewiest sich sein zugleich Werte erhaltendes und diskriminierendes Niveau, indem man gemeinsam gegen das angeblich verrückte Zeug wettert. Konformismus, Konventionalität definieren weithin den Sozialcharakter dieses Typus. Es handelt sich um eine Schlüsselgruppe. Er entscheidet weitgehend über das offizielle Musikleben. Nicht nur rekrutieren sich aus dieser Schicht wohl die Stammabonnenten, sondern auch die Gremien, welche die Programme und Spielpläne gestalten. Sie lenken jenen verdinglichten Geschmack, der dem kulturindustriellen zu Unrecht sich susperior fühlt.
Anzuschließen wäre ein Typus, der ebenfalls nicht von der Relation zur spezifischen Beschaffenheit des Gehörten, sondern von der gegenüber dem Objekt weithin verselbständigten eigenen Mentalität sich bestimmen lässt: der des emotionalen Hörers. Sein Verhältnis zur Musik ist weniger starr und indirekt als das des Kulturkonsumenten, dafür aber in anderem Betracht noch weiter weg vom Vernommenen: es wird ihm wesentlich zur Auslösung sonst verdrängter oder von zivilisatorischen Normen gebändigter Triebregungen, vielfach zu einer Quelle von Irrationalität, die den in den Betrieb rationaler Selbsterhaltung unerbittlich Eingespannten überhaupt noch gestattet, irgend etwas zu fühlen. Häufig genug hat er kaum mehr etwas mit der Gestalt des Gehörten zu tun: die Funktion ist überwiegend jene auslösende. Gehört wird nach dem Satz von den spezifischen Sinnesenergien: man empfindet Licht, wenn einem auf das Auge gehauen wird. Doch mag dieser Typus tatsächlich besonders stark auf sinnfällig emotional getönte Musik ansprechen; zum Weinen ist er leicht zu bringen. Die Übergänge zum Kulturkonsumenten sind fließend: auch in dessen Arsenal fehlt selten die Berufung auf die Gefühlswerte echter Musik. Der emotionale Hörer scheint – vielleicht unterm Bann des musikalischen Kulturrespekts – in Deutschland weniger charakteristisch als in angelsächsischen Ländern, wo der striktere zivilisatorische Druck zum Ausweichen in unkontrollierbar inwendige Gefühlsbereiche nötigt. Er will nichts wissen und ist daher von vornherein leicht zu steuern. Die musikalische Kulturindustrie plant ihn ein; in Deutschland und Österreich etwa seit den frühen dreißiger Jahren mit der Gattung des synthetischen Volkslieds. Sozial wäre dieser Typus schwer zu identifizieren. Einige Wärme wäre ihm wohl zu glauben; möglicherweise ist er wirklich weniger verhärtet und selbstzufrieden als der Kulturkonsument, dem gegenüber er nach Begriffen des etablierten Geschmacks tiefer rangiert. Doch mögen diesem Hörtypus gerade auch sture Berufsmenschen, die ominösen tired buinessmen zurechnen, die in einem Bereich, der für ihr Leben konsequenzlos bleibt, Kompensation für das suchen, was sie sonst sich versagen müssen. Dem emotionalen Hörer ist die Musik Mittel zu Zwecken seiner eigenen Triebökonomie. Er entäußert sich nicht an die Sache, die ihn dafür auch mit Gefühl zu belohnen vermag, sondern funktioniert sie um in ein Medium bloßer Projektion.
Zum emotionalen Hörer hat zu mindestens in Deutschland ein krasser Gegentypus sich herausgebildet, der, anstatt in Musik dem zivilisatorischen Gefühlsverbot, dem mimetischen Tabu, auszuweichen, es sich zueignet und geradezu als Norm der eigenen musikalischen Verhaltensweise erkürt. Sein Ideal ist eines von statisch-musikalischem Hören. Er verachtet das offizielle Musikleben als ausgelaugt und scheinhaft; aber er treibt nicht darüber hinaus, sondern flüchtet dahinter zurück in Perioden, die er vorm vorherrschenden Warencharakter, der Verdinglichung, geschützt wähnt. Kraft seiner Starrheit zollt er derselben Verdinglichung Tribut, die er opponiert. Man könnte diesen wesentlich reaktiven Typus den des Ressentiment-Hörers taufen.
Im Protest gegen den Musikbetrieb scheinbar nonkonformistisch, sympathisiert dabei meist mit Ordnungen und Kollektiven um ihrer selbst willen, mit allen sozialpsychologischen und politischen Konsequenzen. Dafür zeugen die stur sektenhaften, potentiell wütenden Gesichter. In ihrer Sondersphäre, auch im aktiven Musizieren sind sie geschult, es geht wie am Schnürchen; doch ist alles mit Weltanschauung verkoppelt und verbogen. Die Inadäquanz besteht darin, dass ganze Musiksphären, auf deren Wahrnehmung es ankäme, ausfallen. Das Bewusstsein dieses Typus ist präformiert durch die Zielsetzungen ihrer Bünde, die meist krass reaktionären Ideologien anhängen, und durch den Historismus. Die Werktreue wird zum Selbstzweck; es geht ihnen nicht so sehr darum, den Sinn der Werke adäquat darzustellen und zu erfahren, als eifernd darüber zu wachen, dass um kein Tüttelchen von dem abgewichen wird, was sie, anfechtbar genug, für die Aufführungspraxis vergangener Zeiten halten. Tendiert der emotionale Typus zum Kitsch, so der Ressentiment-Hörer zur falschen Strenge, welche die mechanische Unterdrückung der eigenen Regung im Namen von Geborgenheit in der Gemeinschaft betreibt. Psychoanalytisch bleibt er ungemein kennzeichnend, Appropriation eben dessen, wogegen es eigentlich geht. Er bezeugt Ambivalenz. Was sie wollen, ist nicht nur das Widerspiel des Musikanten, sondern inspiriert vom heftigen Affekt gegen dessen imago. Der innerste Impuls des Ressentiment-Hörers dürfte der sein, das uralte zivilisatorische Tabu über den mimetischen Impuls in der Kunst selbst zu vollstrecken, die aus jenem Impuls lebt. Das nicht von der festen Ordnung Domestizierte, Vagantische, Ungebändigte, dessen letzte, triste Spur die Rubati und Exhibitionisten von Solisten sind, wollen sie ausrotten. Subjektivität, Ausdruck ist dem Ressentiment-Hörer zutiefst eins mit Promiskuität, und den Gedanken an diese kann er nicht ertragen. Er rekrutiert sich vielfach aus dem gehobenen Kleinbürgertum, das seinen sozialen Abstieg vor Augen hatte. Die seit Jahrzehnten zunehmende Abhängigkeit der Mitglieder jener Schicht verhindert sie mehr stets daran, sich selbst im Äußeren bestimmende und dadurch erst inwendig sich entfaltende Individuen zu werden. Jene Schicht hält aber zugleich an der Ideologie des sozial gehobenen fest, de Elitären, der „inneren Werte“. Ihr Bewusstsein, und ihre Stellung zur Musik, ist die Resultante aus dem Konflikt zwischen sozialer Lage und Ideologie. Er wird so geschlichtet, dass sie die Kollektivität, zu der sie verurteilt sind und in der sie sich zu verlieren fürchten, sich und anderen zugleich als höher denn die Individuation, als seinsverbunden, sinnhaft, human und was noch alles vorspiegeln. Die erzwungene Regression wird, nach der Ideologie der inneren Werte, umgefälscht in etwas Besseres als das, was ihnen versagt ist, formal vergleichbar der faschistischen Manipulation, die das Zwangskollektiv der Atomisierten mit den Insignien naturwüchsig - vorkapitalistischer Volksgemeinschaft bekleidete.
Quantitativ der erheblichste aller Typen ist sicherlich derjenige, der Musik als Unterhaltung hört und nichts weiter. Dächte man lediglich an statistische Kriterien und nicht an das Gewicht einzelner Typen in der Gesellschaft und im Musikleben, und an typische Stellungen zur Sache, nach solcher Qualifikation dünkt es fraglich, ob angesichts seiner Präponderanz die Entwicklung einer weit darüber hinausgreifenden Typologie für die Soziologie sich lohnt. Anders stellt es erst sich dar, sobald man Musik nicht bloß als ein Für anders, als soziale Funktion betrachtet, sondern als ein An sich, und am Ende die gegenwärtige soziale Problematik der Musik gerade mit dem Schein ihrer Sozialisierung zusammenbringt. Der Typus des Unterhaltungshörers ist der, auf den die Kulturindustrie geeicht ist, sei, dass dieses nach ihrer eigenen Ideologie, ihm sich anpasst, sei dass sie in erst schafft oder hervorlockt. Vielleicht ist die isolierte Frage nach der Priorität falsch gestellt: beides ist eine Funktion des Standes der Gesellschaft, in die Produktion und Konsum verflochten sind. Sozial wäre der Typus des Unterhaltungshörers dem viel bemerkten, allerdings durchaus nur aufs subjektive Bewusstsein beziehbaren Phänomen einer nivellierten Einheitsideologie zu korrelieren. Der Unterhaltungstypus ist vorbereitet in dem des Kulturkonsumenten durch den Mangel an spezifischer Beziehung zur Sache; Musik ist ihm nicht Sinnzusammenhang sondern Reizquelle. Elemente des emotionalen wie des sportlichen Hörens spielen hinein. Die Struktur dieser Art des Hörens ähnelt der des Rauschens. Sie wird eher durchs Unbehagen beim Abschalten definiert als durch den Lustgewinn, solange etwas läuft. Der Umfang derjenigen, die sich von Musik berieseln lassen, ohne nur recht hinzuhören, ist unbekannt. Der Vergleich mit Süchtigkeit drängt sich auf. Süchtiges Verhalten hat generell seine soziale Komponente: als eine der möglichen Reaktionsbildungen auf die Atomisierung, die mit der Verdichtung des gesellschaftlichen Netzes zusammenhängt. Der Süchtige findet mit der Situation des sozialen Drucks ebenso wie der seiner Einsamkeit sich ab, indem er diese gewissermaßen als eine Realität eigenen Wesens ausstaffiert. Aus dem: „Lasst mich in Ruhe“ macht er etwas wie ein illusionäres Privatreich, in dem er glaubt, er selbst sein zu können. Wie es jedoch die Beziehungslosigkeit des extremen Unterhaltungshörers zur Sache erwarten lässt, bleibt sein Innenbereich selber ganz leer, abstrakt und unbestimmt. Die spezifische Hörweise ist die der Zerstreuung und Dekonzentration, unterbrochen wohl von jähen Augenblicken der Aufmerksamkeit und des Wiedererkennens; für ihre Primitivität ist der program analyzer das rechte Instrument. Er wird adäquat nur im Zusammenhang mit den Massenmedien zu beschreiben sein. Psychologisch ist ihm eigentümlich die Ich-Schwäche: er applaudiert als Gast begeistert auf Lichtsignale, die ihn dazu animieren. Kritik an der Sache ist ihm so fremd wie die Anstrengung um ihreswillen. Skeptisch ist er bloß gegen das, was ihn zur Selbstbesinnung nötigt; bereit, sich mit seiner eigenen Einschätzung als Kunden zu solidarisieren; verstockt eingeschworen auf die Fassade der Gesellschaft, wie sie aus den Illustrierten ihn entgegengrinst. Ohne dass dieser Typus politisch profiliert wäre, konformiert er wie musikalisch so wohl auch in der Realität einer jeglichen Herrschaft, die seinen Konsumentenstandard nicht gar zu offensichtlich beeinträchtigt.
Ein Wort schließlich wäre zu sagen über den Typus des musikalisch Gleichgültigen, Unmusikalischen und Antimusikalischen, wenn anders man sie zu einem Typus zusammenstellen darf. Bei ihm handelt es sich nicht, um einen Mangel natürlicher Anlage, sondern um Prozesse während der frühen Kindheit. Die Hypothese sei gewagt, dass damals bei diesem Typus durchweg brutale Autorität Defekte hervorgebracht hat. Kinder besonders strenger Väter scheinen häufig unfähig zu sein, auch nur das Notenlesen zu lernen. Dieser Typus geht offenbar mit einer überwertig, man könnte sagen: pathisch - realistischen Gesinnung zusammen; ich habe ihn unter extremen technischen Spezialbegabungen beobachtet. Es würde aber auch nicht überraschen, wenn er, reaktiv, in Gruppen sich fände, die aus der bürgerlichen Kultur durch Bildungsprivileg und ökonomische Lage eximiert sind, gleichsam als Antwort auf die Entmenschlichung und zugleich als deren Bekräftigung. Was amusisch im engeren und weiteren Sinn gesellschaftlich bedeutet, ist noch nicht studiert; viel wäre daraus zu lernen.
Missdeutungen meines Entwurfs mögen mit der Abwehr des Gesagten sich verbinden. Weder ist es meine Absicht, diejenigen, welche zu den negativ beschriebenen Hörtypen zählen, zu schmähen, noch das Bild der Realität zu verzerren, indem aus der fragwürdigen Verfassung des musikalischen Hörens heute ein Urteil über den Weltzustand abgeleitet würde. Sich geistig so zu gebärden, als wären die Menschen dazu da, richtig zu hören, wäre ein groteskes Echo des Ästhetizismus, so wie freilich umgekehrt die These, die Musik sei für den Menschen da, unter dem Schein der Humanität nur das Denken in Tauschkategorien befördert, das alles Seiende bloß als Mittel für anderes kennt und, indem es die Wahrheit der Sache entwürdigt, die Menschen selber trifft, denen sie nach dem Munde redet. Der herrschende Zustand, den diese Typologie visiert, ist nicht die Schuld derer, die so und nicht anders hören, und nicht einmal die Schuld des Systems der Kulturindustrie, das ihren geistigen Zustand befestigt, um ihn besser ausschlachten zu können, sondern gründet in gesellschaftlichen Tiefenschichten wie der Trennung geistiger und körperlicher Arbeit; der hoher und niedriger Kunst; später der sozialisierten Halbbildung; schließlich darin, dass ein richtiges Bewusstsein in einer falschen Welt nicht möglich ist und dass auch die gesellschaftlichen Reaktionsweisen auf Musik im Bann des falschen Bewusstseins stehen. Den sozialen Differenzierungen innerhalb des Entwurfs kommt kein gar zu großes Gewicht zu. Der antagonistische Zustand des Ganzen drückt darin sich aus, dass auch musikalisch richtige Verhaltensweisen durch ihre Stellung im Ganzen fatale Momente zumindest zeitigen können. Was man tut, ist falsch. Der Experten-Hörer bedarf einer Spezialisierung wie wahrscheinlich nie zuvor, und der proportionale Rückgang des guten Hörers wäre wohl Funktion dieser Spezialisierung. Sie aber wird oft erkauft mit schweren Störungen im Verhältnis zur Realität, mit neurotischen und selbst psychotischen Charakterdeformationen. Sicherlich ist es kein Zufall, sondern liegt im Zug der Spezialisierung selbst, dass viele von ihnen, sobald sie mit Fragen jenseits ihres Fachbereichs konfrontiert werden, naiv und borniert sich zeigen bis zur völligen Desorientiertheit. Das Versagen vor der Kultur nötigt zu Schlüssen über das Versagen der Kultur vor den Menschen und über das, was die Welt aus ihnen gemacht hat.


- Theodor W. Adorno

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